Im Rollenspiel stehen zumeist einzelne Charaktere im Mittelpunkt des Geschehens, und so betrachten die Mechanismen deren Aktionen und Manöver mitunter im Takt von wenigen Sekunden. Es gibt aber auch Systeme, die sich der Entwicklung von Familien, Gesellschaften oder Nationen widmen und dabei in der Spielwelt Dekaden oder gar Jahrhunderte pro Zug verstreichen lassen.
Vom Einzelschicksal zum Großen Ganzen
Zwar ist das faszinierende im Rollenspielhobby, dass man herausragende Persönlichkeiten spielen kann, die ihre Spuren im Lauf der Geschichte hinterlassen. Nur wenige Systeme versuchen aber, eben diesen großen Bogen über die Konsequenzen dieser Ereignisse zu schlagen und abzubilden, wie die Gesellschaft sich daraufhin weiterentwickelt. Die hier vorgestellten Spiele haben zwar genau dieses Ziel, Kern und Austragungsort des eigentlichen Rollenspiels sind aber nach wie vor individuelle Charaktere und Figuren. Dabei habe ich zwei Ansätze für die Handhabung des Zeitverlaufs vorgefunden: Ausgehend von großen Intervallen und Veränderungen, in die man individuelle Episoden auf Charakterebene einstreut, oder die eher abstrakte Verwaltung und Planung zwischen einzelnen Episoden der Figuren.
Die Herangehensweise, primär die langfristige Entwicklung und Geschichte der Spielwelt abzubilden, habe ich merklich seltener entdeckt. Zwar ist Charakterspiel hier weiterhin die Ebene, die die meiste Zeit am Spieltisch einnimmt, die Regeln selbst legen aber den Fokus auf sehr große Zeitintervalle und arbeiten sich von oben auf kleinere Spannen und Details herunter.
Für die andere Herangehensweise gibt es diverse namhafte Vertreter. Hier konzentrieren sich die Regeln primär auf das Charakterspiel, zusätzlich gibt es aber auch Kapitel, die sich mit den Entwicklungen in den Pausen zwischen den eigentlichen Abenteuern beschäftigen. Diese haben dann weniger mit dem Ausspielen einer Figur zu tun, sondern mit Ressourcenmanagement und dem eher abstrakten Verwalten der Besitztümer, der ein Charakter vorsteht. Hier wird meist das Intervall von Jahreszeiten gewählt, der Erzählfaden folgt dabei langfristig den einzelnen Figuren einer ganzen Familienlinie.
Aria: Canticle of the Monomyth
Aria von Last Unicorn Games ist wahrscheinlich das ambitionierteste System, das sich je an der Entfaltung von Gesellschaften und Nationen versucht hat. Da es aber leider an einer Vielzahl von unhandlichen Begrifflichkeiten, ausufernden Tabellen und unübersichtlicher Strukturierung leidet, ist es letztlich nur eine Randnote in der Vielzahl veröffentlichter Rollenspiele.
Dennoch ist der Ansatz von Aria faszinierend: Die Eigenschaften einer Gesellschaft wie deren Ausrichtung (Agrar, Industrie, etc.), Regierungsform, Militärstärke oder Außenpolitik werden mit ausführlichen Werten und Veränderungsmodifikatoren abgebildet, dazu kann gibt es noch Regeln für Familienlinien und individuelle Charaktere innerhalb eines Stammbaums. Auch individuelle Gesellschaften oder Religionsgemeinschaften vermag das System auf diese Weise abzubilden.
Dementsprechend umfassend sind die Zeitspannen, die Aria anbietet:
Mythische Zeit (Mythic Time) kann Dekaden und Jahrhunderte umfassen und dient eher beschreibenden Zusammenfassungen, um etwa die Auswirkungen und langfristige Erholung von einer globalen Katastrophe als Grundlage für die bespielte Welt festzulegen.
Aria-Zeit (Aria Time) beschreibt Entwicklungen über ein bis zehn Jahre, so etwa lang angelegte politische Intrigen, Allianzen oder soziale Veränderungen.
Erzählzeit (Narrative Time), die Stunden bis Monate umspannt, wird zumeist beim eigentlichen Rollenspiel und der Interaktion zwischen Figuren angewandt.
Für die detaillierte Abwicklung von Aktionen und Manövern, wie sie etwa im Kampf genutzt wird, verwendet das System schließlich die Aktionszeit (Action Time) von fünf Sekunden Dauer.
Microscope
Im Gegensatz zu Aria: Canticle of the Monomyth ist Microscope von Lame Mage Productions nicht auf die fortschreitende Entwicklung fokussiert, sondern setzt schon bei Spielbeginn den Anfangs- und den Endpunkt der Saga, die als positiv oder negativ beschrieben werden. Vielmehr baut dieses System darauf, den Weg zum bekannten Ende herauszufinden und die Frage zu beantworten, wie es denn dazu kommen konnte.
So brechen die Spieler im Verlauf einer Sitzung dieses weitreichende Intervall auch nach und nach in kleinere Zeiteinheiten auf. Auf der Ebene des Anfangs- und Endpunkts ergänzt man nach und nach weitere Perioden (Periods), die Jahrzehnte und Jahrhunderte umfassen können. Eine Periode kann etwa das Errichten eines interstellaren Reiches oder einen großen Krieg darstellen. Wollen die Spieler hier ins Detail gehen, so können sie innerhalb einer Periode diverse Ereignisse (Events) einfügen, die einen bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit darstellen. Letztlich kann man auf der untersten Ebene Szenen (Scenes) erfinden, die die Handlungen bestimmter Figuren während eines Ereignisses erzählen und so letztlich die vom Rollenspiel bekannte Charakterebene abbilden.
Von den hier vorgestellten Systemen wäre Microscope wegen seines erzählerischen und auf sehr große Zeitepochen umspannenden Ansatzes auch dasjenige, das ich am liebsten einmal ausprobieren würde.
Pendragon
Greg Staffords Rollenspiel Pendragon im Arthurianischen England (derzeit in Edition 5.1 von Nocturnal erhältlich) war wohl das erste, das das Spiel über Generationen hinweg einführte. Schon bei der Charaktererschaffung erwürfelt man die Taten des eigenen Großvaters zu Zeiten Uther Pendragons, und die Zeugung von Nachkommen und der Erhalt der Familie ist eine nicht zu unterschätzende Aufgabe.
Prinzipiell unterscheidet Pendragon zwischen der Sommer- und Winterphase: Während ersterer finden die klassischen Abenteuer statt, für mehr als eines pro Sommer ist wegen der langen Wegstrecken und anderer Verpflichtungen auch meist keine Zeit. Im Winter folgt dann die abstrakte Abwicklung von Alter, Familienentwicklung und anderer Haushaltsführung. Dieses Zeitintervall bezeichnet Pendragon grundsätzlich als Kampagnenzeit (Campaign Time), während eines Abenteuers kommen dann die Erzählzeit (Narrative Time) für längere Reisen und Realzeit (Real Time) für Charakterspiel zum Einsatz. Für die taktischen Manöver einer Schlacht oder eines Scharmützels schließlich verwendet das Spiel entsprechend Battle Rounds und Melee Rounds.
Birthright
Obwohl die Kritik dieses D&D-Setting aus den letzten Jahren unter TSR sehr positiv annahm und zahlreiche Zusatzbände erschienen, wird Birthright seit dem Wechsel zu WotC nicht mehr unterstützt. Hier finden sich die Spieler von Anfang an in der Rolle von Landesfürsten wieder, die ihre Domänen erweitern und verteidigen müssen.
Dementsprechend erweitert Birthright die etablierten Zeiteinteilungen von D&D um die Domänenrunden (Domain Turns), bei denen es sich ebenfalls um eine abstrakte Abwicklung der Verwaltungstätigkeiten und langfristigen Planungen handelt. Nach Abhandlung der finanziellen Situation stehen drei Aktionsrunden von je 1 Monat zu Verfügung, in denen man groß angelegte Ziele wie Turniere oder Intrigen, aber auch eine Abenteuerfahrt des Regenten angehen kann. Somit umfasst ein Jahr Spielzeit vier Domänenrunden.
Auch wenn wie gesagt schon seit vielen Jahren kein neues Material für Birthright erschienen ist, so hält eine treue Fangemeinde das Setting bis heute am Leben und hat es auf Birthright.net sogar auf DnD3 konvertiert.
Houses of the Blooded
Von Autor John Wick vollmundig als das “Anti-D&D” bezeichnet, widmet sich auch Houses of the Blooded statt wandernden Söldnern den Taten priviligierter Fürsten göttlichen Blutes. Regeltechnisch teilweise inspiriert von Fate 3.0 gehen die einzelnen Häuser der Ven den Wettstreit um die Vorherrschaft in ihrer Welt an. Wie schon in den obigen Beispielen ist der langfristige Lauf der Zeit in Jahreszeiten (Seasons) aufgeteilt, in denen man neben der Planung des Ressourceneinsatz und eventuellen Schwierigkeiten auch eine Reihe von langfristigen Aktionen wie Spionage, Expeditionen oder das Knüpfen neuer Kontakte angeht.
Statecraft
Das rein im Netz publizierte Statecraft von Greg Christopher bezeichnet sich selbst als ein "Grand Strategy Roleplaying Game", das insbesondere für das Spiel via Forum oder Email entworfen wurde. Dementsprechend sind die dargestellten Landesfürsten, die einen eigenen Staat zwischen dem 15. und 18. Jahrhundert lenken, auch mit rollenspielähnlichen Attributen umschrieben wie Scharfsinn (Acumen), Autorität (Authority), Arglist (Guile) oder - um generationenübergreifendes Spiel zu ermöglichen - Zeugungsfähigkeit (Fertility). Ähnlich wird auch der gelenkte Staat mit numerischen Eigenschaften wie Investitionen (Investment), Kampfbereitschaft (Readiness) oder Steueraufkommen (Tax Income) definiert.
Der Zeitablauf folgt wie in vielen der oben genannten Beispielen im Lauf der Jahreszeiten (Seasons). Hier werden Einkommen, Einfluss oder wirtschaftlicher Abschwung ermittelt und eine Vielzahl verschiedener Aktionen geplant, darunter Expeditionen, Diplomatie und Bündnisse oder Kriege. Insgesamt macht Statecraft aber eher den Eindruck einer Wirtschaftssimulation als eines Rollenspiels, und wer nicht die explizit Möglicheit zum Spiel per Email nutzen kann oder möchte, findet im Bereich der Brett- oder Computerspiele sicher etliche Alternativen.
Aktuellste Fassung von Statecraft ist die öffentliche Betafassung von 2011, die Interessierte hier einsehen können.
Dieser Artikel ist Teil des Karnevals der Rollenspielblogs im Mai 2014 über das Thema "Zeit und Rollenspiel". Die Moderation liegt bei bei Lars Alexander auf Mad Kyndalanth, alle Beiträge des Monats werden zudem in diesem Thread des Forums der Rollenspielblogs aufgelistet.
Fein, fein. :)
AntwortenLöschenAria habe ich gerne gelesen, nur leider nie gespielt.