Zunächst: Eine Glosse
Gleich zu Beginn des Karnevals der Charakterentwicklung brachte blut_und_glas von d6ideas den Kern von Rollenspielen kurz und knackig auf den Punkt, wenn auch mit einem kleinen Denkfehler:
Zitat von: Nerd-Gedanken am 01. Mai 2018, 12:49:19
"Wie kann ich meine Charaktere weiterentwickeln:"
Hier! Hier! Ich weiß es! Mit Erfahrungspunkten! Von denen kaufe ich mir dann eine neue Charakterklasse!
Nein? :(
Nein! Natürlich nicht! Multiklassen-Charaktere resultieren nur in einem elenden Spagat zwischen zwei Kompetenzbereichen, bei denen man beide irgendwie ordentlich, aber keine von beiden wirklich optimal beherrscht. Schuster, bleib bei deinen Leisten und reize tunlichst die Optionen aus, die dir deine aktuelle Klasse bietet!
Aber ansonsten sind Erfahrungspunkte selbstverständlich ein erprobtes Mittel, um die Charakterentwicklung nachvollziehbar voranzutreiben.
Seien wir doch ehrlich: Die Wurzeln des Rollenspiels liegen nun einmal in Cosims und Kampagnenspiel, und die eigentliche Revolution seitens TSR war schlicht, den Fokus von einer ganzen Armee auf nur eine einzelne Figur je Spieler zu legen. Viele Paradigmen aus jener vorsintflutlichen Zeit haben sich bis heute im Rollenspiel gehalten, da mögen die Verehrer von manierierten Indie-Erzählprodukten und anderen eingeschränkten One-Trick-Ponies auch noch so wütend mit dem Fuß aufstampfen.
Denn im Kern sind Rollenspiele immer noch Spiele mit Regeln, mit abstrahierten Werten, mit verklausulierten Schlagworten; und genau diese Regeln bestimmen, wie ich die Puzzle und Herausforderungen eines Spielabends bewältigen muss. Wie gut, dass sie mir aber auch dabei helfen, die Effizienz meiner Figur zu steigern, indem sie mir durch ausdauernde Spielzeit auf mechanischer Seite bessere Zahlenwerte, bessere Schlagworte und neue Sonderfertigkeiten versprechen. Denn nur diese Kompetenz und Quantifizierbarkeit garantiert mir auch das Lösen zukünftiger, schwieriger Bedrohungen und die damit einhergehende weitere Effizienzsteigerung.
Natürlich gibt es seit der Altvorderenzeit von TSR Alibiveranstaltungen wie die berüchtigten Gesinnungen, um Motivation und Innenleben der Charaktere zu kategorisieren, aber deren Einfluss auf das Charakterspiel erschöpft sich auch nur in billigen Entschuldigungen, um chaotisch-neutral als ungeselliger Spielverderber oder rechtschaffen-gut als selbstgerechter Schlächter auftreten zu dürfen. Und zur Not versieht man die eigene Figur einfach mit dem vielseitig einsetzbaren Attribut „Jähzornig“, um sich so beim geringsten Anlass in die rettenden Arme der Konfliktsimulation und Zahlenschubserei fallen lassen und dies gleichzeitig als Ausspielen der Rolle verkaufen zu können.
Vielleicht ist die bessere Alternative ja doch eine Materialschlacht vom Schlage eines Gloomhaven, Descent oder Munchkin Quest, denn da erhält man dank der beliebten „Variable Player Powers“ nicht nur ein ähnliches Arsenal für individuelle Verbesserung, sondern bekommt auch noch einen erklecklichen Fundus an hübschen Plastikfiguren und Papptableaus, wo ein klassisches PnP-Rollenspiel für das gleiche Geld nur langweilige Wälzer in Telefonbuchstärke bietet – mit Glück sogar in Farbe und auf Hochglanzpapier!
Und nun mal im Ernst
Auch wenn die Situation am Spieltisch sich zumeist nicht derart überspitzt wie oben beschrieben geriert, so kann man sich im Rollenspiel dennoch wohlfeil hinter den Zahlenwerten auf dem Charakterbogen verstecken, ohne groß auf die Gefühlswelt der Figur eingehen zu müssen. Diese Diskussion ist nicht neu und soll hier auch gar nicht abermals angestoßen werden.
Wenn aber Spieler, die einem derartigen Stil frönen, ihre Motivation primär über die abstrahierten Wertverbesserungen holen, dann ist es vielleicht auch möglich, ihnen durch ähnliche Belohnungen und In-Game-Vorteile den Anreiz zum Ausspielen des eigentlichen Charakters, des Innenlebens der Figur zu geben. Tatsächlich gibt es auch diverse Beispiele für Rollenspielregeln, die genau diesen Weg gehen.
Variante 1: Erfahrungspunkte für gutes Rollenspiel
Tja, Erfahrungspunkte bleiben doch trotz aller Polemik ein bewährter Antrieb, sich in die Spielsitzung einzubringen. So nennen auch schon seit frühesten Rollenspieltagen die Richtlinien für den Spielleiter, bei der Punktevergabe auch Gutes Rollenspiel zu berücksichtigen. Das macht diese Variante aber auch im Rahmen dieser Betrachtung zur schwammigsten. Denn Gutes Rollenspiel liegt nun einmal auch im Auge des Betrachters, zum anderen aber vor allem handelt es sich hier um ein Belohnungssystem, dass in Form des klassischen Stufenaufstiegs seine Vorteile zwischen den Sitzungen und nicht schon währenddessen entfaltet.
So mag mir auch nur ein arg obskures Beispiel für diese Variante einfallen, das vor allem aufgrund seiner Schlichtheit einfach macht, die Motivation der Figur ins Zentrum des Spielabends zu stellen: Toon, das altehrwürdige Cartoonrollenspiel aus den 80ern. In seiner genregerechten Überzeichnung gibt es den Charakteren sogenannte Beliefs & Goals mit, die sich schon in so einfachen Phrasen wie „Work is bad“, „I’m the greatest“, „Cheat everyone“ oder „Destroy things“ erschöpfen dürfen. Und da Toon die Charaktere eh unkaputtbar macht und alles dem vergnüglichen Klamauk unterordnet, sind diese Bonus-Erfahrungspunkte auch einfach verdient.
Variante 2: Persönliche Motivation als Attribut
Während die meisten, eher klassischen Rollenspiele in ihren Attributen eben die körperlichen und geistigen Fähigkeiten eines Charakters abbilden, gehen einige der von mir oben augenzwinkernd gescholtenen Indie-Rollenspiele den Weg, stattdessen die inneren Antriebe als zentrale Werte darzustellen. Am bekanntesten ist dabei sicher Fate mit seinen Aspekten, die als tunlichst überlebensgroße Schlagwortsätze sowohl die Hauptantriebe und Schwächen eines Charakters kurz skizzieren, gleichzeitig aber auch durch die gemeinsame Findung in der Gruppe für persönliche Beziehungen sorgen können. Schon der Beispielcharakter aus den Grundregeln liefert dafür anschauliche Anregungen: „Ich verdanke dem Alten Finn alles“, „Kaputthauen ist immer eine Lösung“ oder „Auge um Auge“.
Aber auch andere, weniger weit verbreitete Titel liefern für diesen Ansatz schöne Beispiele: Primetime Adventures, das die Gepflogenheiten von Fernsehserien abbildet, setzt das zentrale Problem, das eine Figur umtreibt, als „The Issue (What you struggle with)“ in den Mittelpunkt und definiert als zweiten wichtigen Wert die sogenannte „Screen presence (Amount of attention in an episode)“.
Sehr reduziert geht My Life with Master seine Figuren an, die unterwürfigen Schergen von verrückten Wissenschaftlern vom Schlage eines Victor Frankenstein. So sind für diese Igors lediglich die beiden Attribute „Weariness“ und „Self-Loathing“ vorgesehen, die nichts über ihre Fähigkeiten, aber alles über ihr zerrissenes Innenleben aussagen.
Variante 3: Gummipunkte
Diverse Systeme stellen den Spielern mehr oder vielseitige Gummipunkte zur Verfügung, die im Sitzungsverlauf für einen kurzfristigen Bonus ausgegeben werden können. Diese aber wiederzuerlangen verlangt expliziten Einsatz des Spielers. So etwa in Savage Worlds, wo es für clevere Aktionen, wichtige Hinweise oder – der Klassiker! – Gutes Rollenspiel einen Bennie gibt, die erneutes Würfeln oder Schadensreduktion ermöglichen . Auch Fate mit seinen Fate Points erlaubt einerseits einen Bonus bzw. einen kompletten Neuwurf einer Probe, verlangt aber auch für neue Punkte das Reizen der negativen Seiten der oben beschriebenen Aspekte.
Selbst das Urgestein Dungeons & Dragons ist mit seiner aktuellen fünften Edition auf diesen Zug aufgesprungen und bietet nicht nur ausführliche Hintergrundpakete mit Idealen, Verbindungen oder Schwächen, sondern verspricht für deren Ausspielen auch Inspiration. Damit ist ein Charakter bei einem Wurf im Vorteil und darf das bessere Ergebnis von 2W20 auswählen, zudem darf man diesen Vorteil nicht ansparen, sondern muss ihn stets neu erspielen.
Ganz viele Möglichkeiten offeriert das erzähllastige 7te See in seiner zweiten Edition: Zum einen kennt auch dieses System sogenannte Heldenpunkte zur Aktivierungen von Tugenden oder Bonuswürfeln und vergibt diese wertvolle Ressource für das Ausspielen von Spleens und Untugenden. Zum anderen motiviert 7te See zu Flair am Spieltisch: So kann ein Spieler Bonuswürfel einheimsen, wenn er seine Aktionen mit einer lebhaften Beschreibung würzt und/oder innerhalb der aktuellen Szene eine neue Fertigkeit nutzt, anstatt sich kontinuierlich auf seine besten Attribute zu verlassen.
Ein (augenzwinkerndes) Fazit
Und nun? Bedarf es nun also Zuckerbrot und Peitsche oder billige Belohnungssysteme wie bei Kleinkindern, um die Spieler am heimischen Tisch aus der Reserve zu locken und aus ihren Figuren mehr zu machen als nur eine Ansammlung von Zahlen und Tabellen? Ja, vielleicht tut es das sogar. Denn der Weg vom Brett- zum Rollenspiel kann ein steiniger sein, und wenn ein Spieler dabei seine Motivation aus handfesten mechanischen Vorteilen zieht und dabei en passant erfährt, wie es ist, in der eigenen Figur aufzugehen, dann ist ein großer Schritt bereits gemacht.
Denn wie sagte Dr. Seltsam noch am Ende von Stanley Kubricks zeitloser Komödie über den Kalten Krieg, als er all seine Gummipunkte für die entscheidende Probe ausgab: „Mein Führer! Ich kann wieder gehen!“
Dieser Artikel ist ein Beitrag zum Karneval der Rollenspielblogs im Mai 2018 mit dem Thema „Spielercharaktere weiterentwickeln“. Die Moderation liegt bei Glorias Nerd-Gedanken, alle Beiträge des Monats werden zudem in diesem Thread des Forums der Rollenspielblogs aufgelistet.
Hi!
AntwortenLöschenEin interessanter Blogbeitrag.
Zwei Punkte:
1. finde ich die Kritik von TSR und den alten D&D Produkten (und anderen Spielen) völlig fehl am Platz. Denn Du schreibst selbst, dass die Spielregeln das herausforderungsorientere Spiel behandeln. Wenn also das Charakterspiel davon losgelöst passiert und daher nicht durch die Spielregeln verregelt ist, dann kann man Spielen wie D&D auch keinen Vorwurf machen, dass sie dafür keine Regeln haben.
Denn andere - spätere - Systeme haben dafür auch keine. Ich verweise da mal auf Vampire, die sich Storyteller ja auf die Fahnen schrieben, dessen Rollenspiel sich aber oft anschauen liess, wie Superhelden mit Fangzähnen... - weil die Spielregeln da auch kein Charakterspiel forcierten und es doch wieder der Spielerrunde überlassen wurde, da "was" zu machen.
2.
Was braucht es dafür, dass der Charakter einer Spielfigur zum Spielinhalt gemacht, ins Spotlight geschoben, ausgespielt und im Rahmen der Spielzeit weiterentwickelt wird?
Ganz einfach: Das Interesse der Spieler (und des Spielleiters) das zu tun.
Wer Lust dazu hat, wird es anfangen. Und entweder machen die anderen mit, oder gucken komisch (dann sollte man sich andere Mitspieler suchen, wenn man das unbedingt braucht).
Und wenn keiner Lust dazu hat, dann wird auch das tollste Regelwerk, dass das forciert, nicht helfen, die Leute am Tisch dazu zu bekommen, sowas auszuspielen. Die werden sich dann nämlich schnell nach einem anderen Spiel umschauen.
Der Prozess ist also folglich selbstregulierend.
Der Weg vom Brett zum Rollenspiel wird automatisch gegangen, wenn die Leute Lust dazu haben, ihn zu gehen. Und die anderen werden so spielen, wie ihnen das richtig erscheint - und das ist dann auch richtig.
Zuckerbrot und Peitsche für die, die der Schauspielerei nichts abgewinnen können, halte ich für unnötige Gängelei und den falschen Versuch, jemand zu etwas zu erziehen, von dem man allein selbst überzeugt ist, dass es notwendig ist.
"denn das andere ist ja gar kein richtiges Rollenspiel"
Sind wir wieder in den Neunzigern?
Danke für den Kommentar, ich will mich in meiner Antwort kurz fassen.
AntwortenLöschenZu 1) Nun, darum ist es eben eine Glosse.
Zu 2) Die Auflistung sollte wertfrei sein, mein Interesse galt vor allem den Möglichkeiten, wie Regelwerke versuchen, hier explizite Anreize zu schaffen. Ob die Spieler darauf eingehen, steht selbstverständlich auf einem anderen Blatt.