Das Rollenspiel, das dabei herauskam, war klar von dem Wunsch beseelt, in diese einzigartige Welt einzutauchen. Regeltechnisch ist mir gerade rückblickend klar, dass meine beiden Rollenspielkumpane keine grossen Systemerfahrungen hatten ausser mit dem deutschen Klassiker Das Schwarze Auge, dessen zweite Edition erst kürzlich erschienen war. Auch wenn in dem Werk einige wirklich nette Ideen hervorblitzen, so ist es gerade nach heutigen Maßstäben klobig und völlig unausgegoren. Betrachten wir diesen Herzensbrecher aber erst einmal genauer.
Umfang
War das Original meiner beiden Kumpane noch handschriftlich verfasst und mit liebevoller Kaligraphie versehen, so hatte ich für meinen persönlichen Gebrauch die Regeln in ein Textdokument auf meinem C64 übertragen. In dieser Form passt das gesamte Spiel auf gerade einmal 9 1/2 DinA4-Seiten, dabei sehr grosszügig mit Absätzen und Raum für Tabellen versehen.
Die Charaktererschaffung
Erster Schritt zu einem Charakter, stets ein ausgebildeter Magier, ist die Wahl des vor den Mitspielern geheim zu haltenden wahren Namens und eines von den anderen bestimmten Rufnamens. Es folgt eine Seite, auf der Tabellen über mehrere W20-Würfe Heimatinsel, den früheren Beruf wie Jäger oder Fischer sowie die Vorkenntnisse in der Magie ermitteln. Zwei weitere Tabellen bestimmen Körpergröße und Haarfarbe.
Anschließend folgt die eigentliche Definition des Charakters durch die Talente. Begrifflich waren die beiden Autoren sicherlich vom DSA-Terminus beeinflusst, inhaltlich stellen die Talente aber einen fast willkürlichen Wust von Eigenschaften dar. Aufgeteilt in die vier Gruppierungen Zwischenmenschliches, Körper, Natur und Geist fasst jeder Abschnitt Begriffe zusammen, die man in modernen Systemen strikt in Attribute, Fertigkeiten und Aspekte aufteilen würde. Dazu kommt, dass mitunter zwei Talente im Grunde das Gleiche abbilden sollen. Hier einige Beispiele:
Zwischenmenschliches (insg. 8):
Ausstrahlung, Charme, Dankbarkeit, Gesprächigkeit, Menschenfreundlichkeit, Mut
Körper (insg. 15):
Beweglichkeit, Klettern, Kondition, Konstitution, Muskelkraft, Potenz, Reflexe, Schwimmen, Umgang mit Waffen
Natur (insg. 10):
6. Sinn, Fährten folgen, Fesseln/Entfesseln, Konstruktivität, Orientierung
Geist (insg. 17):
Einfühlungsvermögen, Konzentrationsvermögen, Lernvermögen, Logisches Denken, Magische Veranlagung, Naivität, Phantasie, Taktgefühl, Widerstand gegen fremde Magie
Ich mag die Idee, Eigenschaften jenseits der reinen Attribute in Zahlenwerten auszudrücken - Ende der 80er sicherlich nicht üblich in Rollenspielen - aber dennoch machen dies Systeme das ähnlich alte King Arthur Pendragon oder das modernere Fate ganz klar besser.
Sämtliche Talente haben einen Wert von I bis VII und werden zufällig mit einem W20 ermittelt. Eine VII ist dabei nur mit zwei aufeinanderfolgenden Würfen von 20 zu erreichen. Eine Vielzahl von Talenten ist bereits in dieser Liste als nicht durch Aufstiege steigerbar gekenneichnet. Andere sind derart markiert, dass man aus ihnen drei auswählen darf, um einen automatischen Wert von IV zu erhalten; bei den restlichen mit dieser Markierung ist ein Wert von I oder II nicht möglich. Abhängig von der Vorbildung und dem ursprünglich ausgeübten Beruf kann der Charakter nun noch entsprechend gekennzeichnete Talente um 1 Stufe auf maximal VI steigern.
Da sämtliche Charaktere ja ausgebildete Magier darstellen sollen, widmet sich ein kurzer Absatz speziell der Intelligenz. Die dabei getroffenen Prämissen lassen mich jedesmal von neuem schmunzeln, deswegen an dieser Stelle ein direktes Zitat:
"Der durchschnittliche IQ in Erdsee liegt bei 65. Bei Magiern sogar bei ca. 70.
Helden ermitteln den IQ nach folgendem Schema:
68 + 1W20"
Auch hier ergeben sich durch "überdurchschnittliche" Intelligenz Bonuswerte auf einiger der Geistestalente bis maximal VI.
Dennoch ginge die Intelligenz der Erdseemagier ginge selbst der in den Regeln maximale mögliche IQ von 88 allenfalls als schwach durch - aber was beschwere ich mich, auch als angehender Abiturient fehlte mir offensichtlich die Allgemeinbildung, um diese Werte zu hinterfragen.
Lebenspunkte beginnen sehr großzügig bei 200(!), dazu kommt ein Bonus oder Malus abhängig vom Talent Konstitution. Wie im weiteren Verlauf der Regel deutlich wird, gibt es keine separaten Punkte für die magischen Fertigkeiten, statt dessen wird alles mit Lebenspunkten bezahlt. Prinzipiell eine nette Idee, aber um Magiern überhaupt einen arkanen Handelsspielraum zu geben, führte das zu dem absurd hohen Punktmaximum. Im Kampfkapitel soll sich noch zeigen, wie unspielbar diese Zahl ist.
Die Proben
Hier wird das Regelpamphlet zum ersten Mal sehr schwammig: Der Meister - erneut wird ein Begriff aus DSA direkt übernommen - soll schlicht anhand der Gegebenheit die Schwierigkeit des Wurfs entscheiden. Lediglich ein Beispiel für eine Wahrscheinlichkeit von 7 zu 13 ist angeführt, bei dem nicht höher als 7 auf einem W20 gewürfelt werden darf.
Ausführliche Richtlinien, wie genau der Meister diese Wahrscheinlichkeiten zuordnen soll, fehlen gänzlich. Wenn ich mich allerdings recht entsinne, soll diese anhand des Werts des zu erprobenden Attributs (und von denen gibt es ja, wie oben aufgeführt, eine Menge) werden.
Der Kampf
Schon der erste Satz dieses Kapitels lässt mich schmunzeln, denn auf Regeln für Rüstungen wurde mit den folgenden Worten vollständig verzichtet:
"Als erstes eine kleine Anmerkung zum Problem der Rüstungen und ihrer Handhabung:Zwar ist diese Aussage über schwere Plattenrüstungen bei aller Flapsigkeit formal korrekt; wenn ich mich jedoch recht entsinne, so beschreibt in der Romanvorlage bereits der erste Absatz des ersten Kapitels Krieger, die lederbewehrt voranschreiten.
ISS NICH !!!
In Erdsee ist noch niemals jemand auf die Idee gekommen, seinen Körper in die zu große Ausführung einer Sardinenbüchse zu stecken."
Die Regeln für den eigentlichen Schlagabtausch, wiederum offensichtlich von DSA inspiriert, sind angenehm kompakt: Für die einzelnen Körperteile ist ein Grundwert zwischen 7 (Herz) und 17 (Leib) angegeben, von denen ein Charakter den Wert seines Talents Reflexe abzieht. Diesen Wert darf ein Angreifer auf 1W20 nicht überwürfeln. Die Abwehr schließlich ist sehr elegant: Der Verteidiger darf den Angriffswurf seines Gegners aus 1W20 nicht überwürfeln. Erst bei einem misslungenen Angriff endet eine Attackeserie.
Beim genaueren Hinsehen jedoch offenbaren sich auch hier grobe Ungereimtheiten: Warum kennt das System das körperliche Talent Umgang mit Waffen, wenn dieses im Kampf keine Anwendung findet..?
Als unausgewogen mächtig erweist sich die Finte: Hier darf der Angreifer versuchen, den Wert seines Talents Finte x3 auf 1W20 nicht zu überwürfeln, um dann (1W4/2, abrunden) von seinem nächsten Angriffswurf abziehen zu können. Man bedenke den unfairen Vorteil, den ein Charakter mit einem ja rein zufällig festgelegten Talentwert von 6 bereits bei seiner Erschaffung hat.
Beim Schaden wird auf die Differenz zwischen Angriffwurf und Zielwert noch die Muskelkraft hinzuaddiert - ein weiteres Beispiel für die unausgeglichenen Vorteile guter Würfe bei der komplett zufälligen Charaktererschaffung - und multipliziert diese nach Art der Waffe einem Faktor von 1 bis 3. Herztreffer töten sofort, Kopftreffer machen sofort bewusstlos. Bedenkt man allerdings die schon bei der Erschaffung sehr hohe Zahl von Lebenspunkten, so kann selbst ein Grünschnabel erstaunlich viel einstecken.
Die Magie
Dies ist natürlich der faszinierendste Teil der Vorlage: Magie zu wirken nur durch die Kenntnis der Ursprache.
Die regeltechnische Umsetzung teilt die Magie in die sechs Bereiche Illusion, Wettermachen, Verwandlungen, Heilzauberei, Gebieten und Formgebung. Um die Magie schließlich zu wirken, ist ein den Bereich definierendes Invokationswort nötig, dazu der Name des Gegenstands oder der Person, die verzaubert werden soll. Konkrete Wortlisten werden allerdings nur für das Wettermachen gegeben. Die wenigen in den Regeln aufgelisteten Worte sind mitunter arg augenzwinkernd und mindern eher den erhabenen Eindruck, den die Vorlage von der Ursprache vermittelt; so lauten die Invokationen für Wettermachen, Heilzauberei und Gebieten Marzokoin, Chiroprak und Grendel; Wetterarten listen Begriffe wie Namedh, Zyclor und Alderaan für Hitze, Wolken und Sonne. Neue Worte erlangten die Charaktere in unserer Spielrunde am Ende eines Abenteuers willkürlich vom Spielleiter, in den Regeln findet diese Handhabung allerdings keine Erwähnung.
Sämtliche Deutungshoheit über den Erfolg eines zaubers obliegt, wie schon bei allgemeinen Proben, dem Spielleiter. Dieser bestimmt frei nach dem gewünschten Effekt die Schwierigkeit der nötigen Würfelprobe.
Ein separates, wenn auch sehr kurzes Kapitel wird schließlich den Segelregeln gewidmet, die die Fähigkeiten und Kosten für magischen Wind sowie die anfallenden Segelproben anreissen. Dies ist kurioserweise das einzige Kapitel, in dem erwähnt wird, dass Zauber in der Ursprache mit Lebenspunkten bezahlt werden müssen.
Ich schätze den generellen Ansatz des Spiels, Magie in einem freien System aus Objekt und Effekt abzubilden; gerade wenn man sich vor Augen hält, dass die beiden Autoren nur Rollenspielsysteme mit fest definierten Sprüchen wie DSA und D&D kannten. Allerdings macht die in dem gesamten Regelwerk präsente Schwammigkeit das ganze unspielbar, und wurde schon damals von uns unbekannten Systemen wie Ars Magica besser umgesetzt.
Erfahrung und Aufstieg
Auch hier zeigt sich deutlich der Einfluss von DSA. Charaktere beginnen auf Stufe 1 und können maximal Stufe 17 erreichen. Amüsant ist hier, dass die Autoren sich bewusst gegen die strikte Formel der DSA-Stufenaufstiege auflehnen, und solch willkürlich aufeinanderfolgende Zahlenfolgen wie 100-160-500-620 oder 2345-2937-3333-3334(!) nennen.
Bei einem Aufstieg erhält der Charakter ein Talent seiner Wahl steigern, nicht jedoch auf VII. Einige Talente sind in der Auflistung von solchen Steigerungen komplett ausgenommen. Zudem erhält ein Charakter auf insgesamt 7 der 17 möglichen Stufen zusätzliche Lebensenergie. Auch hier haben die Autoren willkürliche Würfelzahlen angegeben, die kein mathematisches Grundmuster erkennen lassen.
Eine konsequente Idee haben die Autoren allerdings in Form der Meisterpunkte. Die Regeln erläutern es zwar nicht, aber in unserer DSA-Runde war es üblich, das die Funktion des Spielleiters zwischen den Beteiligten regelmässig wechselt; somit verfügte auch jeder Spieler über einen Charakter. Dementsprechend soll der Meister für den Abend von seinen Spielern nach deren geheimer Absprache 1-10 Meisterpunkte erhalten; sind 37 davon gesammelt, erhält der Charakter dieses Spielers ein Wort in der Ursprache - dazu unten mehr - und 7 permanente Lebenspunkte.
Beim genaueren Hinsehen fällt natürlich auf, dass die Aufstiegsmöglichkeiten über Meisterpunkte nicht so vielseitig wie die über Erfahrungspunkte sind, da auf diesem Weg keine Talente gesteigert werden können. Ausserdem ignoriert dieser Mechanismus Runden, in denen eine Person den Posten des Spielleiters für ein Setting oder System fest übernimmt.
Adaption der sonstigen Welt
Ich zitiere das Kapitel "Bestiarum Terramarum" in seiner Gänze:
"In Erdsee sind, bis auf die Drachen, keinerlei Fabelwesen bekannt. Die meisten Tiere werden von DSA (R) übernommen. Das Berechnen der Körperwerte nimmt der Meister vor."Eine Richtlinie für diese Konvertierung und sämtliche weitere Hintergrundinformationen über die Welt von Erdsee fehlen - es wird schlicht die Lektüre der Romanserie vorausgesetzt.
Ein Spielbericht
Meine beiden Rollenspielkumpane luden mich geheimniskrämerisch an einem Samstagabend ein, um mir bei selbstgemachter reichlich belegter Pizza ihr Erdsee-Rollenspiel vorzustellen. Bei der anschließenden Charakterauswürflung kann ich mich nur noch an wenige Details erinnern: Der wahre Namens meines Zauberers war Noor (weil mir der Klang des englischen nor (weder noch) gefiel), und der bemerkenswerteste Talentwert wurde Gesprächigkeit mit II. Also entschied ich, dass ein Mundwerk wie ein Wasserfall spannender ist als ein stummer Fisch; entsprechend fiel auch der von den Mitspielern verliehene Rufname aus, der mir leider entfallen ist. Tatsächlich waren es bei allen dreien die herausragend niedrigen oder hohen Talentwerte, die die Grundlage für den Rufnamen bilden sollten.
Insgesamt fand sich unsere Gruppe drei- oder viermal zusammen, um Erdsee zu spielen, womit auch jeder einmal den Posten des Spielleiters einnehmen konnte. An grossartige Kämpfe kann ich mich gar nicht mehr erinnern, und die einzelnen Talentproben führten auch nicht zu dramatischen Wendungen. Auch an die Handlung der Abenteuer selbst kann ich mich kaum noch erinnern; alle spielten auf der Insel mit der großen Magierschule und transportierten vor allem die Stimmung der Welt.
In meinem eigenen Abenteuer mussten die Zauberer Gerüchten in der einfachen Bevölkerung von einer angeblichen Hexe nachgehen, die sich als einfaches Kräuterweib herausstellte. Die Spielern belohnten die Sitzung nur mit 4 oder 5 Meisterpunkten, dafür war ihnen die Auflösung zu schwachbrüstig - dabei war genau diese Bodenständigkeit mein Ziel. Aber wer beschäftigte sich in den späten 80ern auch mit der Erwartungshaltung seiner Spieler...?
Ein Schlusswort
Es ist eindeutig, dass die beiden Autoren primär ein Vehikel erschaffen wollten, um im Rollenspiel in die Welt von Erdsee einzutauchen. In meiner Erinnerung an die damaligen Spielrunden ist mir vor allem präsent, dass die Atmosphäre der Vorlage eingefangen werden sollte, die regeltechnische Umsetzung war lediglich Beiwerk. Charmant finde ich bis heute die mitunter trotzige Haltung, es eben anders machen zu wollen als das in unserer Runde bekannte DSA, auch wenn dieser Trotz zu einigen sehr fragwürdigen Regeln geführt hat.
Dennoch denke ich an unsere wenigen Spielnachmittage in Erdsee nicht im Zorn zurück, denn das eigentliche unausgeprochene Ziel wurde damals erreicht: Wir waren ein Teil von Erdsee.
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