Ein Labyrinth, das keines ist

 Mitte 2020 veröffentlichte der Verlag River Horse Games das Labyrinth Adventure Game; ein lizensiertes Rollenspiel zu Jim Hensons Filmklassiker aus den 80ern. Dabei kommt das Spiel aber gänzlich ohne eine Übersichtskarte des ausgedehnten Labyrinths aus. Stattdessen kommt mit dem Exploration System sein gänzlich anderer Mechanismus für das Fortschreiten zum Ziel und das Verlaufen zum Tragen, der sich mit etwas Mühe sogar auf andere Settings übertragen lässt.

Ein Überblick
Die Figuren, die jeder Spieler im Labyrinth Adventure Game übernimmt, orientieren sich klar an der Filmvorlage: Neben dem Menschen auch Zwerge, Goblins, Gehörnte Bestien, Firey, Ritter oder sogar einen Wurm. Diese Wahl verleiht auch spezifische Eigenschaften wie etwa die lösbaren Gliedmaßen der Fireys oder die Kontrolle über bestimmte Objekte der Bestien.
Statt Attributen verfügt jeder Charakter nur über etwas, worin er gut ist - Heben, Schleichen, Ausdauer u. ä. - und etwas, worin er schlecht ist - etwa Feigheit, Naivität oder Vergesslichkeit.
Erst zum Schluss legt die Gruppe gemeinsam fest, was der Goblinkönig (der nicht zwingend wie der von David Bowie verkörperte Jareth aussehen muss) einem jeden gestohlen hat und was man im Zentrum des Labyrinths von ihm zurückfordern möchte.

Proben erfolgen mit einem w6, die in der Druckversion des Labyrinth Adventure Game sogar in Aussparungen in den Seiten beiligen. Der Spielleiter - hier Golbinkönig genannt - bestimmt eine Schwierigkeit von 2 bis 6, passend zur Vorlage umschrieben von "Das ist doch ein Zuckerschlecken" bis "Das ist nicht fair!", die mindestens mit 1w6 erwürfelt werden muss. Kommt ein Vorteil zum Tragen, würfelt man 2w6 und wählt das bessere Ergebnis, bei einem Nachteil das schlechtere von 2w6.

So weit, so einfach. Interessant wird es aber mit den Regeln für die eigentliche Reise durch das Labyrinth.


Das Exploration System
Bis auf ein paar Filmbilder, die Jareths Labyrinth in seiner beeindruckenden Weite zeigen, verzichtet das Labyrinth Adventure Game auf eine genaue Karte seiner verschlungenen Gänge. Stattdessen ist der Fortschritt der Charaktere gegliedert in fünf aufeinanderfolgende Kapitel, die jeweils einem größeren Abschnitt entsprechen und die auch Sarah in der Filmvorlage in dieser Reihenfolge durchlief.
Auf die Steinmauern ("Stone Walls") beim Eingang folgen das Heckenlabyrinth ("Hedge Maze") und das Gebiet um den Sumpf des Ewigen Gestanks ("Lands of Yore"). Im Zentrum schließen sich dann die Goblinstadt ("Goblin City") und zum Finale Jareths Schloss ("The Castle"). Bis auf das Schloss besteht jedes Kapitel aus knapp über zwanzig fortlaufend numerierten Szenen, und diese Nummerierung ist der Schlüssel zum Weg durch das Labyrinth während des Spiels.

Diese Liniarität ist auch der Schlüssel, wie die Charaktere auf ihr Ziel zubewegen. Jede auf zwei Seiten beschriebene Szene, zu der auch eine kompakte Karte des jeweiligen Ortes gehört, stellt eine neue Aufgabe dar. Hat man sich dieser erfolgreich gestellt, dürfen die Spieler ihren Fortschritt aktualisieren, was am besten mit der Druckausgabe funktioniert: Das Lesebändchen wird schlicht auf diese Szene weitergelegt.
Für die weitere Reise würfeln die Spieler schlichte einen w6 und addieren dessen Ergebnis zu der Nummer der Szene, die ihren derzeitigen Fortschritt darstellt. Schaffen sie es also, die jeweiligen Herausforderungen Szene für Szene zu lösen, steigt auch ihr Fortschritt stetig an, während sie ansonsten im Dunstkreis der letzten geschafften Szene umherirren. Zudem kann eine nicht bestandene Szene dafür sorgen, dass von den 13 Stunden, die für die Reise zum Schloss zur Verfügung stehen, eine verstreicht.
Nur wenn bei diesem linearen Marsch vorwärts ein neues Kapitel betreten wird, betreten die Charaktere immer zuerst dessen Szene 1 als Einleitung zur neuen Umgebung.

 

Ein Weg zurück ist eigentlich nicht vorgesehen, die Spieler können aber jederzeit entscheiden, zu einer vorigen Szene - diese jedoch nur innerhalb des gleichen Kapitels - zurückzukehren. Schaffen sie dabei einen Wurf mit Schwierigkeit 4, finden Sie den Weg zurück, ansonsten verlaufen sie sich und gehen doch wie gewohnt die Szenen entlang vorwärts, verlieren allerdings eine weitere Stunde.

Lediglich das letzte Kapitel des Schlosses weicht von diesem Prinzip ab, denn hier findet sich Eingangs ein Gesamtplan dieser Burg, durch dessen Räume - 13 an der Zahl - man den Goblinkönig entlang genau definierter Verbindungen jagen soll, um ihn schließlich zur Rede zu stellen.




Und in anderen Geschichten?
So sehr das Eploration System auf die Filmvorlage Labyrinth zugeschnitten ist, so kann man deren Mechaniken auch auf andere Rollenspielszenarien anwenden. Wichtig für eine solche Adaption wäre allein, dass die Protagonisten ein zentrales Ziel vor Augen haben, den Weg dorthin aber nicht genau kennen. Je nach neuer Vorlage könnte man daraus dann eigene Kapitel zu den spezifischen Arealen anlegen, die aufeinanderfolgend durchreist werden.
Das Zeitlimit aus Labyrinth oder etwas ähnliches mag eine Rolle spielen, ist aber nicht zwingend notwendig.
Als Beispiele fallen mir mehr oder weniger spontan ein:

Die Reise zum Mittelpunkt der Erde
In Jule Vernes berühmten - und mehrfach verfilmten - Roman begibt sich Professor Lidenbrock mit seinen Reisegefährten in das Innere des Vulkans Snäfields Jöcul, um zum titelgebenden Mittelpunkt der Erde hinabzusteigen. Statt eines Zeitlimits können hier begrenzte Vorräte eine Rolle spielen.
Das erste Kapitel ist geprägt vom nackten Stein und insbesondere der Suche nach Vorräten, vor allem Wasser; gefolgt von der Überfahrt über das unterirdische "Lidenbrock-Meer". Daran schließt sich im dritten Kapitel die Erforschung der kleinen Inseln an, voller prähistorischer Pflanzen und Getier bis hin zu Dinosauriern. Die letzte Etappe handelt von der Entdeckung der Überreste von Urmenschen und, die Buchvorlage erweiternd, anderen menschenähnlichen Gestalten. Das finale Kapitel ist die abenteuerliche Fahrt auf Wasser und Lava zurück an die Erdoberfläche.

Die fantastische Reise
In diesem SF-Film der 60er wird ein Ärtzeteam miniaturisiert, um im Körper eines angeschossenen Wissenschaftlers ein eigentlich inoperables Blutgerinnsel im Gehirn zu entfernen. Ein Zeitlimit spielt in diesem Film sogar eine große Rolle, denn die Schrumpfung hält nur für 60 Minuten an. Obwohl die Route genau vorausgeplant wurde, führen unglückliche Abzweigungen und Sabotage die Crew durch Herz und Lunge, vorbei am Lymphknoten, durch das Innenohr und schließlich zu ihrem Ziel, dem Gehirn. War der Austritt aus dem Körper des Patienten eigentlich durch den Nacken geplant, gelangen die Ärzte im Film schließlich nach dem Verlust ihres U-Boots durch die Tränendrüsen ins Freie.

Dredd
In dieser Filmfassung mit Karl Urban in der Titelrolle spielt die gesamte Handlung allein in dem Slum-Turm Peach Trees mit 200 Stockwerken, in dessen 76. die Drogenkönigin Ma-Ma verschanzt hat. Der Weg zu diesem Ziel führt vom Erdgeschoss, wo die Judges noch das Sagen haben, über die mittlere Ebene unter Kontrolle der Red Dragons, bis schließlich ins Territorium von Mamas Clan, die sowohl die Sicherheitszentrale als auch die Drogenlabore kontrolliert. Ein Zeitlimit ist hier irrelevant, obwohl der durchweg empfehlenswerte Film durch die Droge Slo-Mo auf innovative mit dem Zeitempfinden spielt.

 

Dieser Artikel ist ein Beitrag zum Karneval der Rollenspielblogs im Mai/Juni 2022 mit dem Thema "Labyrinthe". Die Moderation liegt bei mir auf Spiele im Kopf, die Artikel dazu werden in diesem Thread des Forums der Rollenspielblogs gesammelt.


Bildquellen
River Horse Games, Wikipedia (Buchillustration von Édouard Riou), Imdb (Fantastic Voyage, Dredd)