Die Legende der Schildwache

26.01.2016
In der Welt von Earthdawn ermöglichte der zyklische Anstieg des Magieniveaus den Schrecken, aus ihrer Heimat in den Anderwelten des Astralraums eine Brücke in die Welt der Namensgeber zu schlagen. Obwohl letztlich nur die theranische Lösung Erfolg hatte, sich vor der kommenden Geißel über Jahrhunderte in den unterirdischen Kaers zu verstecken, so wollten sich zu Beginn der zunehmenden Invasion durch die Schrecken etliche mächtige Adepten nicht damit abfinden, ihre Heimat kampflos den astralen Gegnern zu überlassen. Die Gruppe „Die Schildwache“ beschloss sogar, den Kampf zum Gegner zu tragen und sich den Schrecken in deren Heimat im Astralraum zu stellen.


Die Schildwache
Die heutige Öde im Westen Barsaives, die durch eine ständige Aschewolke unbewohnbar ist, war vor der Geißel eine fruchtbare Landschaft. In Nunnoshyn, einer der blühenden Städte der Region, residierte eine angesehene Gruppe von Adepten, die unter dem Namen der „Schildwache“ diesen Ort schon vor zahlreichen äußeren und inneren Feinden beschützt hatte. Der Ork Druntog genoss trotz seiner zwielichtigen Disziplin als Geisterbeschwörer großes Ansehen wegen seines Wissens um die jenseitige Welt, ähnlichen Respekt brachte man dem Menschen Taumir entgegen, der sich als Magier als weiser Deuter von Zeichen und Symbolen erwiesen hatte. Obsidianer Krett, ein erfahrener Krieger und Veteran zahlloser Schlachten, war seit je her der schützende Schild der Bevölkerung Nunnoshyns. Mehr im Hintergrund blieben der T’Skrang Van’sonan, der als Dieb das Rampenlicht eher scheute, und Zwerg Chunyora, der als Kundschafter eine größere Affinität für die Wildnis als für die Stadt zeigte.

Schon als sich die ersten Vorboten der Geißel abzeichneten, wurde Nunnoshyn von Anfang an von kleineren Schrecken attackiert, die ohne Vorwarnung aus dem Astralraum auftauchten. Dank der Schildwache jedoch konnte größerer Schaden an der Stadt und seiner Bevölkerung abgewehrt werden. Als diese Angriffe jedoch immer häufiger und heftiger wurden, überzeugte Geisterbeschwörer Druntog seine Kumpane schließlich, dass man diesen Gegner auf dessen eigenem Territorium stellen müsste, um Nunnoshyn weiter vor dieser neuen Gefahr beschützen zu können.


In den Astralraum
Als meisterhafter Geisterbeschwörer kannte Druntog bereits die Zauber, mit deren Hilfe sich Portale durch den Astralraum öffnen lassen, um so Reisen durch die physische Welt Barsaives abzukürzen. Ein Vorstoß in den Astralraum selbst bedeutete aber, sowohl die physische Hülle der Adepten in ihre reine astrale Form zu wandeln, als auch zu dieser zurückkehren zu können. Außerdem musste die Schildwache Pfade in Regionen des Astralraums suchen, die jenseits der Symbiose aus physischem Körper und dessen astralem Abdruck liegen, und dennoch in der Lage sein, ihren Weg zurück in die körperliche Welt finden zu können.
Nach langen Studien fanden Druntog und Magier Taumir einen Weg, der aber jedem der Schildwächter ein großes Opfer abverlangte: Da die Portalzauber des Geisterbeschwörers Knochenkreise an Start- und Zielpunkt verlangen, musste jedes Gruppenmitglied mehrere Knochen opfern, damit deren astrales Abbild dann, durch von Taumir neu entwickelte Sprüche präpariert, als Wegmarke im Astralraum dienen konnte. Die meisten Schildwächter trugen danach magische Prothesen aus Kristall oder Orichalkum. Obsidianer Krett hingegen war überzeugt, dies würde das Opfer seiner linken Hand und dessen Wirkung schmälern, so dass er auf einen Ersatz verzichtete.

Nachdem Druntog und Taumir die ersten astralen Knochenkreise als Wegpunkte platziert hatten, konnte die Schildwache ihre ersten erfolgreichen Gefechte gegen die Schrecken im Astralraum bewältigen. Danach war es stets an Kundschafter Chunyora, in seiner astralen Form den Weg in die Anderwelten zu finden, um so den Schrecken entgegenkommen zu können. Dieser lernte bald, die verzerrte astrale Landschaft zu erkennen, die von der Durchreise eines Schreckens verursacht wird, musste dabei aber auch schmerzhaft feststellen, wie diese Korruption die intuitiv magische Anwendung seiner Talente störte und verdarb. Dennoch vermochte der Zwerg, erfolgreich neue astrale Knochenkreise immer tiefer im Astralraum zu platzieren, bis er und seine Gefährten schließlich eine grausige Entdeckung machten.


Kastaxaio
Musste sich die Schildwache zu Beginn ihrer Expedition nur relativ schwachen Schrecken entgegenstellen, so wurden ihre Gegner umso mächtiger, je tiefer sie in den Astralraum eindrangen. Je weiter sie sich von ihrer physischen Heimatebene entfernten, umso mehr wuchs das magische Niveau des Astralraums, das überhaupt die Invasion der Schrecken ermöglicht hatte, und umso stärker wurden auch ihre Gegner. Zwar wurden ihre magischen Talente so ebenfalls verstärkt, aber wie schon Kundschafter Chunyora mussten gerade diebeiden Zauberer Druntog und Taumir zunehmend den verderbenden Einfluss der Schrecken auf ihre Magie feststellen. Da die reinigenden Spruchmatritzen zu diesem Zeitpunkt noch so gut wie unbekannt und höchstens theoretisch ergründet wurden, hatten die beiden auch kaum Möglichkeiten, sich davor zu schützen.

Das wahre Ausmaß der sich anbahnenden Geißel offenbarte sich der Schildwache schließlich, als sie eine weitere Schwelle des korrumpierten Astralraums übertraten. Dort lauerte der mächtige Schrecken Kastaxaio, eine grässliche Kreatur aus Asche und Schatten, für den das Magieniveau noch nicht ausreichend angestiegen war, um die für ihn nötige Brücke von den Anderwelten bis nach Barsaive zu schlagen. So verharrte das Geschöpf in der Zwischenwelt des Astralraums, geduldig und langsam vorankriechend, in der Gewissheit, dass das Magieniveau unweigerlich auf seinen Höhepunkt zulaufen würde, der ihn die letzte Barriere würde durchbrechen lassen.

Kastaxaio erwies sich schnell als ein Gegner, dem die Schildwache nicht gewachsen war. Die Adepten versuchten mit aller Macht, den Schrecken zu besiegen, bevor dieser aus dem Astralraum hervorstoßen und Nunnoshyn überfallen konnte, verloren dabei aber zwei ihrer Gefährten. Kundschafter Chunyora wurde von Kastaxaio heimtückisch in die Irre geführt, so dass der Zwerg von seinen korrumpierten Talenten in die Weiten des vom Schrecken verzerrten Astralraums geleitet und nie wieder gesehen wurde. Magier Taumir wurde schließlich von der verderbten Kraft des Astralraums, die seine Zaubersprüche mit Energie versorgte, in ein Schreckensgezücht und Diener Kastaxaios verwandelt. Der verbleibenden Schildwache wurde klar, dass sie den Schrecken im direkten Kampf nicht davon abhalten konnte, bis Nunnoshyn vorzudringen.


Versiegelte Pforten
So beschlossen die drei verbleibenden Adepten, dass es nur eine Möglichkeit gäbe, ihre Heimat Nunnoshyn vor dem drohenden Überfall des großen Schreckens zu bewahren: Der Weg aus dem Astralraum in die physische Welt musste verschlossen werden. Da die Zeit und die Ressourcen fehlten, die für ein Kaer gedachten theranischen Riten des Schutzes und Durchgangs zu errichten, musste eine andere magische Barriere her. Nachdem sie schon für die astralen Knochenkreise einen Teil ihrer selbst gegeben hatten, entschieden sich die verbleibenden Schildwächter für ein letztes ultimatives Opfer zum Wohle der Stadt: Ihr astraler Leib sollte eine schützende Barrikade um Nunnoshyn bilden.

Geisterbeschwörer Druntog entwickelte zu diesem Zweck ein von Blutmagie gespeistes Ritual, das die astrale Form eines Namensgebers aufgehen lassen sollte, um so ein möglichst großes Areal abzudecken. Krieger Krett verschaffte seinem Gefährten die nötige Zeit, indem er allein die weiter aus dem Astralraum einfallenden, zunehmend stärker werdenden Schrecken abwehrte. Um zudem sicher zu gehen, dass gerade der große Schrecken Kastaxaios Nunnoshyn nicht würde heimsuchen können, vollbrachte Dieb Van’sonan ein einzigartiges Meisterstück: Er kehrte in den Astralraum zurück und stahl dem großen Schrecken einen winzigen Teil aus dessen astralem Muster. Dieses verwob Druntog mit den Schutzzaubern des neuen Rituals, auf dass die Barriere genau diese Kreatur niemals würde passieren lassen. Wenige Tage darauf beendeten die drei verbleibenden Schildwächter freiwillig ihre körperliche Existenz nahmen ihren Platz rund um das astrale Abbild ihrer Stadt ein, um diese für die Ewigkeit zu schützen.


Eine verschollene Legende
Die Erzählung um das große Opfer der Schildwache ist heute nach dem Ende der Geißel nur wenigen Troubadouren und Gelehrten bekannt, liegt ihr Ursprung doch in der unbewohnbaren Region der Öde. Viele Fragen nach dem Schicksal der Adepten und der Stadt Nunnoshyn sind so bis heute unbeantwortet geblieben: Konnte der Ort wirklich dauerhaft geschützt werden und hat vielleicht die Geißel sogar ohne die Errichtung eines Kaers überstanden? Fand der Schrecken Kastaxaios womöglich doch einen anderen Weg, nach Barsaive zu gelangen und Nunnoshyn zu verheeren? Die wenigen Expeditionen, die tollkühne Adepten in die Öde unternommen haben – und von denen nur wenige zurückgekehrt sind – haben die Stadt bis heute nicht wiederfinden können.

Dennoch versprechen sich Gelehrte große Erkenntnisse davon, sollte Nunnoshyn je entdeckt werden. Das Ritual des Druntog, das Muster eines Namensgebers umzuwandeln, verspricht große Erkenntnisse über das Wesen der Magie selbst; ebenso wertvoll wären Hinweise auf die Fertigung der astralen Knochenkreise. Das größte Mysterium ist bis heute aber die Meisterleistung des Diebs Van’sonan: Ist es ihm wirklich gelungen, ein Stück des Musters eines mächtigen Schreckens zu stehlen, oder ist hier über die Jahrhunderte nur die Phantasie mit den Troubadouren durchgegangen, die diese Legende bewahrt haben?

So hoffen die Gelehrten Barsaives weiterhin auf kühne Helden, die bereit sind, in die Öde aufzubrechen und dort vielleicht in der lebensfeindlicher Asche auf das verschollene Nunnoshyn und Hinweise auf das letzte Schicksal der Schildwache stoßen.



Dieser Artikel ist ein Beitrag zum Karneval der Rollenspielblogs im Januar 2016 mit dem Thema „Durch unbekannte Pforten: Wege in andere Welten“. Die Moderation liegt bei Weltenbau-Wissen, alle Beiträge des Monats werden zudem in diesem Thread des Forums der Rollenspielblogs aufgelistet.



Bildquellen
"Astral Space", Earthdawn 3e Player's Guide S. 109, RedBrick Ltd. 2009
Tom Baxa: "Summoning", Earthdawn 3e Player's Guide S. 213, RedBrick Ltd. 2009
"Netherwalk", Earthdawn 3e Player's Companion S. 110, RedBrick Ltd. 2009

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