Blutjäger

30.04.2020
Jeden Tag geht die Welt aufs Neue zugrunde. Wenn die Sonne am Horizont versinkt, hat sie all ihre lebensspendende Kraft verbraucht und hüllt die Welt in eine ewige Dunkelheit. So muss ihr jeden Tag erneut Energie durch lebende Opfer zugeführt werden, damit sie sich am Morgen wieder in strahlender Pracht erheben kann. Was, wenn es eben die Charaktere im Rollenspiel sind, die auf der nie endenden Suche nach neuen Opfern sind und auf deren Schultern somit die Last des Fortbestands der Welt lastet?


Mythen von Tod und Wiedergeburt
Die Vorstellung, dass auch die Götter und gerade die Sonne einem Kreislauf von Leben, Tod und Wiedergeburt unterworfen sind, findet sich in vielen Religionen. So glaubten die alten Ägypter, dass Re auf seiner Sonnenbarke den Himmel durchwandert, um in der Nacht durch das Totenreich des Osiris zu fahren und am nächsten Morgen bei Sonnenaufgang wiedergeboren zu werden. Schon hier ist die Reise auf der Nachtbarke gefährlich, denn Re muss sich der Angriffe der Schlangengottheit Apophis erwehren.

Bei den Maya verkörperte Kinich Ahau für den Weg der Sonne über den Tageshimmel, um bei Nacht in Jaguargestalt als Balam die Unterwelt zu durchstreifen. Die Azteken wiederum kannten die Sonnengötter Huitzilopochtli und Tonatiuh, die nur mit Menschenblut genug Kraft aufnehmen konnten, um sich auf dem anstrengenden Weg durch die Unterwelt zu regenerieren. Ohne diese Gabe würde die Sonne sich weigerdn, wieder aufzugehen. Der Durst dieser und anderer Gottheiten war so groß, dass die Azteken aktiv Gefangene machten, um sie anschließend zu opfern.




Gerade diese blutige Weltsicht vergangener mesoamerikanischer Völker kann auch das ständige Blutvergießen, das im Rollenspiel je nach System einen mehr oder weniger gewichtigen Anteil haben, von einem reinen Gewaltakt zu einem religiösen Akt erhöht werden, der dem Wohle der ganzen Schöpfung dient. Zudem bietet die raue tropische Umgebung nach mesoamerikanischem Vorbild zahlreiche andere Fährnisse, die das Abenteurerleben erschweren.


Reisende Krieger im Namen der Götter
Bei einem solchen Szenario wären die Charaktere Mitglieder einer Krieger- oder Priesterkaste, die die Wildnis ausserhalb ihrer Heimstatt durchstreifen, um neue Opfer für ihre Götter aufzuspüren. Bevorzugt werden dabei ganz klar Humanoide; diesen Kreis kann man zudem in der Fantasy noch ausweiten auf Goblinoide, Kobolde und andere Spezies, die gerne als Standardgegner herangezogen werden.

Dabei müssen die Figuren gar nicht einmal zwingend einem Menschenvolk angehören. Viel interessanter wäre es, wenn die Gruppe und auch ihre gesamte Kultur aus Reptilien besteht. Von Natur aus wechselwarm, wären ewige Nacht und Kälte ihr Untergang. Echsenmenschen im Allgemeinen sind vertraute Gegner in etlichen Rollenspielsettings, meist allerdings eher primitiv wie etwa bei DnD. Dieses kennt aber auch die (je nach Hierarchie) schlangenartigen Yuan-Ti, die bereits Menschenopfer bringen, deren Kultur ansonsten aber grundlegend anders ist als in diesem Entwurf beschrieben. Die Achaz aus DSA waren für ein Zeitalter sogar die beherrschende Kultur Deres, die aber auch hier kaum Überschneidungen zu meinem Szenario birgt.




Gerade die moralischen Implikationen der Opferjagd dürften, wenn schon nicht die Charaktere, auf jeden Fall die Spieler fordern. Aus Sicht der Blutjäger ist das Aufspüren und Darbringen von Opfern unzweifelbar eine gute Tat - zum einen haben auch die anderen Spezies ein Interesse daran, dass der Zyklus von Tag und Nacht fortgesetzt wird, zum anderen garantiert ihnen die Opferung ein bevorzugtes Dasein in der Totenwelt. Die Spieler werden sich damit konfrontiert sehen, ganze Sippen mitsamt Frauen und Kindern auszulöschen - nimmt man das Vorbild der Maya hinzu, so waren weinende Kinder sogar ein besonders wirksames Opfer für den Regengott Chaac.

Einfachstes Ziel sind kleine Siedlungen in der Wildnis, bei denen die größte Schwierigkeit sein dürfte, diese erst einmal zu finden. Einmal von den Blutjägern heimgesucht, ist wird vielleicht gleich die ganze Bevölkerung gefangen genommen, oder aber die wenigen Überlebenden suchen sich aus Furcht vor erneuten Plünderungen eine neue Bleibe, die es aufzuspüren gilt. Zudem gibt es auch im Dschungel nach aztekischem Vorbild immer wieder Ruinen von Städte mit imposanten Steingebäuden, die als gut zu verteidigende Zuflucht dienen können. So bekommt der im Rollenspiel immer wieder herangezogene Dungeoncrawl eine zusätzliche Facette, da zum einen Fallen und andere Hindernisse überlebenswichtige Konstruktionen ihrer Bewohner sind, zum anderen aber eben diese Bewohner statt Reichtümern zu der gesuchten Beute werden.


Rituale, den Sonnengott zu nähren
Die von den Spielern verkörperten Jäger sind nicht die einzigen, die in den Dschungeln Blut vergießen. Gerade wenn in das Szenario auch kriegerische Kulturen wie Orks oder andere Goblinoide Einzug finden, so kann bewaffneter Konflikt und Tod eine stete Gefahr werden. Das Töten durch solche Spezies unterscheidet sich allerdings in einem wichtigen Aspekt von den Taten der Blutjäger: Erst durch die richtigen Rituale wird der vergossene Lebenssaft wirklich zur Nahrung der Götter, ansonsten bleibt jegliches Blutvergießen vergebens. Nach dem Vorbild von Maya und Azteken gibt es verschiedene Zeremonien, die genau diese Widmung ermöglichen:

  • Herausschneiden des Herzens: Dies ist der wirksamste Weg, den Sonnengott zu nähren. Allerdings braucht er einiges an Vorbereitungszeit für die entsprechend geweihte Opferstätte und das Opfermesser, so dass für diese Methode in der Regel Gefangene in die Heimstatt der Jäger gebracht werden.
     
  • Enthauptung: Fast ähnlich potent wie die Entfernung des Herzens, kann dieses Opfer auch während der Jagd an besonders würdigen Gefangenen vorgenommen werden. Voraussetzung ist hier ebenfalls eine entsprechend geweihte Waffe sowie möglichst die rituelle Vorbereitung der Enthauptung. Denkbar, wenn auch bei weitem nicht so wirksam, ist die Enthauptung mit er richtigen Waffe im Rahmen eines Scharmützels im Rahmen des Überwältigens neu aufgespürter Opfer.
     
  • Pfeiltötung: Speziell vorbereitete Pfeile weihen die durch Treffer verursachten Wunden dem Sonnengott. Eigentlich vorgesehen für an Pfähle gefesselte Gefangene, kann diese Methode bei sehr wehrhaften Gegnern auch als Notlösung verwendet werden, um im Rahmen eines regulären Kampfes der Gottheit wenigstens ein wenig Nahrung zuzuführen. Zu Bedenken ist dabei natürlich der schnell erschöpfte Vorrat der präparierten Pfeile.
     
  • Blutopfer: Ist es den Jägern nicht möglich, innerhalb eines Tages auch nur ein neues Opfer aufzuspüren, vermögen auch selbst zugefügte Schnitte in Hand, Arm, Bein oder Ohr den Durst des Sonnengottes ein wenig zu stillen. Die daraus resultierende Schwächung mag sich an den folgenden Tagen rächen, wenn endlich neue Opfer gefunden sind, die es zu überwältigen gilt.


Kreaturen der Nacht
Die Charaktere sind aber nicht die einzigen, deren Lebensinhalt der Wechsel von Tag und Nacht ist. Gleichzeitig gibt es aber auch Kreaturen, die ein Interesse daran haben, dass die Sonne eben nicht mehr aufgehen kann und die Welt in ewige Nacht getaucht wird. Hier lassen sich mesoamerikanischer und europäischer Mythos verquicken.

Vampire sind – auch im Rollenspiel – beliebte Widersacher, zumal sie dank ihrer Ressourcen den Charakteren oft ebenbürtig oder gar überlegen sind. Da das Sonnenlicht sie schädigt oder gar tötet, wäre ewige Nacht die Voraussetzung, um die Oberhand zu gewinnen. Zudem benötigen sie selbst das Blut anderer Wesen, um sich selbst am (Un-)Leben zu erhalten und stehen damit in direkter Konkurrenz zu den Göttern, deren Diener die Charaktere sind. Des weiteren wird Vampiren zumeist die Fähigkeit zugesprochen, Tiergestalt anzunehmen. Statt Wolf oder Fledermaus wäre dies hier aber die Form des Jaguars, der wie schon oben beschrieben dem Nachtzyklus der Maya-Gottheit Balam mit der Verwandlung in diese Raubkatze gleichgesetzt wird.

In humanoider Gestalt eignen sich als Wohnstatt für die Nachtkreaturen im Dschungel verborgene Ruinen - seien es aufgegebene Städte von der Kultur der Blutjäger, oder aber Steinsiedlungen, deren Bewohner bereits vor langer Zeit durch Opferungen ausgelöscht wurden. So kann aus dem oben beschriebene Durchforsten von Verliesen auf der Suche nach Opfern schnell ein Kampf um das eigene Überleben werden, wenn die Blutjäger sich ebenbürtigen oder gar mächtigeren Feinden in Form der Jaguarmenschen gegenübersehen.

Hin und wieder erschaffen die Jaguarmenschen, ähnlich den europäischen Vampiren, neue von ihrer Art. Dabei gehen sie jedoch behutsam vor, denn jede zusätzliche solche Kreatur ist zunächst Konkurrenz auf der Jagd nach wertvollem Blut. Andererseits kann sie aber ein Verbündeter - wenn nicht Kanonenfutter - im Zwist mit den Charakteren sein oder vernichtete Kumpane ersetzen. Gerne versuchen die Jaguarmenschen die Überlebenden der Opferjagd durch die Charaktere auf ihre Seite zu ziehen - schließlich hat der Sonnengott mit seiner Forderung nach Blut und Tod nur Leid verursacht, während die Nacht und die Jaguare solche Greuel nicht fordern. Im Gegenteil, als Jaguarmensch wird ein Überlebender selbst zum mächtigen Jäger und vermag vielleicht seine Familie zu rächen.




Hinter den Kulissen
Die in diesem Szenario beschriebene Idee kam mir bereits 2006 nach dem Kinobesuch in Mel Gibsons "Apocalypto". Ein Mitglied meiner (bis heute existierenden) Runde, der ebenfalls mit im Kino war, hatte erst vor kurzem Mexiko besucht und liebäugelte eh mit einem mesoamerikanischen Setting, aus dem aber nie groß etwas geworden ist. Mir hingegen kam dazu einfach nur der absurde Einfall, das mörderische Plündern von Verliesen durch Murder Hobos auf eine zweifelhafte moralische Ebene zu erheben, indem diese statt Reichtümern entsprechend dem filmischen Vorbild von Leitwolf und Stirnauge einfach nur die unterirdischen Bewohner als nächste Opfer zusammentreiben.



Dieser Artikel ist ein Beitrag zum Karneval der Rollenspielblogs im April 2020 mit dem Thema "This Is The End Of The World As We Know It". Die Moderation liegt bei Dnalor, alle Beiträge des Monats werden zudem in diesem Thread des Forums der Rollenspielblogs aufgelistet.


Bildquellen
"Kinich Ahau" via Wikimedia Commons
"Lizardfolk" via DnD Beyond
"Apocalypto" via IMDB

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