Der universelle Magiebaukasten

29.05.2019
Ausufernde Listen von Zaubersprüchen begleiten unser Rollenspielhobby seit seinen Anfangstagen. Wäre es nicht schön, wenn man stattdessen einen universellen Baukasten zur Verfügung hätte, der einen mit wenigen Einzelteilen jeden nur erdenklichen Zauberspruch erstellen lässt?
Eigentlich gar kein Problem, denn betrachtet man die rein mechanische Seite, lässt sich Magie auf nur wenige Elemente herunterbrechen. Die Schwierigkeit ist eine andere: Diese mechanische Seite sieht in jedem Regelwerk gänzlich anders aus.


Überlegung I: Magieeffekte und Spielmechanik
Dieser Ansatz spukt mir im Kopf herum, seit ich das zur Blütezeit der der DnD 3e-Derivate erschienene Quellenbuch True Sorcery von Green Ronin gelesen habe. Dessen Spruchliste besteht aus immerhin 51 verschiedenen Zaubern über fünf Machtstufen, die um diverse Modifikationen wie Reichweite, Wirkungssteigerung oder Umfang verändert werden können.
Genau diese Modifikationsmöglichkeiten finden im Anhang auf lediglich einer kompakten Seite Platz: Bei Schadenssprüchen konnte die Größe und Anzahl der Würfel verändert werden, die Spruchdauer schrittweise von Sofort über Runden und Minuten bis hin zu Tagen verlängert werden, oder der Bereich von einem über mehrere Ziele bis hin zu zunehmenden Flächen und Wolken ausgeweitet werden.

Im Kern fasst diese eine Seite damit also schon alles zusammen, was ein magischer Baukasten braucht. Nur das Grundelement fehlt noch, und so stellte ich mir die Frage, warum True Sorcery nicht den entscheidenden letzten Schritt gegangen war, auch die Basiseffekte eines Zaubers auf derart einfache Elemente der Spielmechanik herunter zu brechen.


Was also sind die Effekte, die Magie im Rollenspiel bewirken kann? Die folgenden drei Auswirkungen wird man im jedem Rollenspiel wiederfinden, egal wie reduziert oder ausführlich die Mechanismen dahinter sind:

  • Änderung eines Attributs (oder Wert setzen)
  • Änderung eines Fertigkeitswerts (oder Wert setzen. Sonderform: Automatischer Erfolg)
  • Änderung der Gesundheit (Zufügen/Heilen von Schaden)

Das genaue Ausmaß, in dem diese Änderung erfolgt, lässt sich um folgende Paramater spezifizieren:

  • Höhe der Modifikation
  • Reichweite
  • Radius / Anzahl der betroffenen Ziele

Damit sind die Grundpfeiler des universellen Magiebaukastens bereits gelegt.


Überlegung II: Magieeffekte und die Erzählung am Spieltisch
Doch halt: Das soll schon alles sein? Macht es nicht beispielsweise einen Unterschied, ob ich meinen Gegner mit einer Salve magischer Energie zerfetze, ob ich die Kraft der rohen Elemente auf ihn herabbeschwöre, oder ob sich ein Abgrund im Boden auftut, um ihn zu verschlingen? Ist es nicht ein Unterschied, ob ich mich unsichtbar mache, ob ich den Geist meines Gegners beneble, oder ob ich Geräusche an einem Ort gänzlich unterdrücke?

Nein, das ist es nicht. Dies ist nur das schmückende Beiwerk, das sich die Spieler untereinander erzählen.

Die erstgenannten Zauber fallen allesamt unter das Zufügen von Schaden, und ob ein NSC seine Trefferpunkte nun wegen magischer Energie, roher Elemente oder einem Sturz verliert, ist auf mechanischer Ebene vollkommen egal. Unterschiede gibt es vielleicht noch, weil der Elementarangriff mehr Schaden zufügt als die magische Salve, oder weil der Abgrund im Boden mehr als nur einen Gegner zu verschlingen vermag. Dies sind aber im Endeffekt nur die oben genannten Parameter, die das Ausmaß variieren.
Auch die zweite Anwendung von Magie läuft im Endeffekt nur auf einen spezifischen Effekt hinaus: Die Möglichkeit einer Figur zu verbessern, sich zu verstecken. Entweder geschieht das durch einen Fertigkeitsbonus auf Heimlichkeit durch die Unsichtbarkeit, oder aber der Gegner erhält einen Fertigkeitsmalus auf seine Wahrnehmung durch seinen benebelten Geist oder die unterdrückten Geräusche.

  ist das gleiche wie 


Savage Worlds folgt diesem Konzept mit seinen Trappings (wenn auch sehr grob) schon seit geraumer Zeit: Die Liste der eigentlichen Zauber mit ihren festgelegten Effekten ist dort sehr übersichtlich – ob aber ein Angriffszauber die Form einer Strahlenpistole, eines Feuerballs oder göttlichen Zorns annimmt, hängt von dem Archetypen ab, der ihn einsetzt.


Überlegung III: Anderes System, andere Mechanik
Das eigentliche Problem tut sich aber spätestens jetzt auf, wenn man diese vollmundigen Thesen in einen brauchbaren Baukasten überführen will. Denn auch wenn die mechanischen Effekte klar umreißbar sind, so werden sie doch in jedem einzelnen Rollenspiel anders gehandhabt: Während DnD oder DSA beispielsweise Treffer- bzw. Lebenspunkte haben, arbeitet etwa Shadowrun mit einer klar limitierten Spanne von physischem und geistigem Schaden, und Fate kennt nur Stresskästchen und frei formulierte Konsequenzen.
Auch bei Attributen und Fertigkeiten gibt es ungeheure Spannen: Allein bei DnD konnte in der 3. Edition ein einigermaßen kompetenter Charakter einen Fertigkeitsrang von 10 und höher aufweisen, während in der 5. Edition ein Übungsbonus von +6 nur den hochstufigsten Recken vorbehalten ist. Und die Attributsspanne von 3 bis 18 eines DnD lässt sich auch beispielsweise nicht vergleichen mit den Würfelgrößen eines Savage Worlds von w4 bis zu w12.

Wundert es da noch, dass je nach Regelgerüst noch weitere Effekte außer den oben genannten hinzukommen können? Je nach System wären da etwa folgende denkbar:

  • Modifikation eines Sekundärattributs
  • Modifikation eines Zustands/“Tags“
  • Modifikation des „Aktionsspielraums“

Neben den mechanischen Auswirkungen gibt es aber noch eine zweite Hürde: die Kosten eines individuellen Zauberspruchs. Denn auch hier kocht jedes individuelle Rollenspiel sein ganz eigenes Süppchen: DnD verwendet seine berüchtigten Spell Slots (obwohl der Sorcerer das in der 5e mit seinen Sorcery Points aufweicht), bei DSA verbraucht man Astralpunkte, bei Shadowrun macht man Widerstandswürfe gegen Entzug.


Fazit: Universeller Baukasten, individuelle Regeln
So muss die leidvolle Konsequenz des vollmundig versprochenen Baukastensystems also heißen: Für jedes Rollenspielsystem muss er individuell erarbeitet werden. Hier schließt sich auch der Kreis, denn wie schon eingangs erwähnt, hat True Sorcery zumindest für DnD3 genau diese Elemente schon herausgearbeitet, die vielleicht auch als Richtlinie für einen Baukasten in DnD5 herhalten können.
Beispielhaft seien hier folgende Bausteine aufgelistet:

Schaden
Würfelgröße erhöhen: w4 > w6 > w8 > w10 > w12
Würfel hinzufügen: Weiterer Würfel der gleichen Größe
Art ändern: Betäubungsschaden <> Physischer Schaden

Sprucheffekt
Verstärken: Variablen und Konstanten mal 1 1/2
Maximieren: Variablen den maximal möglichen Wert zuweisen

Radius/Reichweite
+1 zusätzliches Ziel
Radius erhöhen: Ziel > Feld > Strahl > Fläche > Zylinder

Dauer
Dauer erhöhen: Sofort > 1 Runde > 1 Minute > 1 Stunde > 1 Tag
Dauer erhöhen: Zusätzliche gleiche Zeiteinheit (z. B. +1 weitere Runde)

Allerdings ist True Sorcery eigene Wege gegangen, was die Kosten dieser Elemente anging. Statt auf die althergebrachten Spell Slots zu gehen, fordert der Quellenband durchgängig einen Wurf auf die neue Fertigkeit „Spellcraft“ und erhöht mit jedem der oben aufgelisteten Effekte den Zielwurf. Dies wieder auf die althergebrachten Spell Slots herunterzubrechen, bräuchte wohl eine sehr akribische Analyse der seitenlangen Spruchlisten aus dem Spielerhandbuch. Von einem Baukasten für ein ganz anderes System einmal ganz zu schweigen…


Nebenbemerkung: Das eigenes Rollenspiel, der eigene Baukasten
Auch wenn ich nicht wirklich daran traue, etwa diese immense Arbeit von True Sorcery sauber auf DnD5 zu konvertieren, so schwirren mir diese Überlegungen doch schon lange genug im Kopf herum, dass ich zumindest einmal einen ganz eigenen Ansatz versucht habe. In meinem kartenbasierten System TriCard, das inzwischen seit fünf Jahren vor sich hindümpelt (weil mir die Fertigkeitseffekte nicht wirklich gefallen), so habe ich da genau mit obigen Überlegungen die Magie auf nur neun Effekte / Karten herunterbrechen können. Entsprechend geradlinig sind aber auch die Elemente, die manipuliert werden können: Extrakarten und erhöhte Kartenwerte.

Nun ja, vielleicht ist da dieser Artikel voll grauer Theorie der nötige Ansporn, um nach all den Jahren mal die Probleme auszubügeln…



Dieser Artikel ist ein Beitrag zum Karneval der Rollenspielblogs im Mai 2019 mit dem Thema "Systeme der Magie". Die Moderation liegt bei mir auf Spiele im Kopf, alle Beiträge des Monats werden zudem in diesem Thread des Forums der Rollenspielblogs aufgelistet.


Illustrationen
Skiorh: "Old Wizard"
CobaltPlasma: "Fireball"
Gallegos Art: "Magic Missile"

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