[Rezension] Bacchanalia

31.10.2012
"Furor Immanis Vini Et Deorum" - mit der ungeheuren Leidenschaft des Weins und der Götter untertitelt sich Bacchanalia, ein spielleiterloses Erzählspiel im Kartenformat des italienischen Verlags Narrattiva. An dieser handlichen Neuauflage eines Indie-Rollenspiels konnte ich auf der Spiel 2012 unmöglich vorbeigehen; und inzwischen habe ich mir auch dank ausgiebiger Lektüre einen Eindruck davon verschafft.


Worum geht es
 Die Rückseite der Schachtel, aber auch die Produkthomepage vermitteln schon einen guten, wenn auch etwas holprig eingedeutschten (und deshalb unten von mir leicht überarbeiteten) Eindruck über die Art von Geschichte, die mit Bacchanalia erzählt werden soll:

"Ein romantisches und verführerisches Erzählspiel mit Karten. 61 nach Christus. Eines Verbrechens gegen das Römische Imperium angeklgt und mit dem Geliebten auf der Flucht, finden ich die Spieler sich in Bertinoro auf den Hügeln der Romagna wieder. In diesem drückend heißen Sommer jedoch ist Bacchus mit seinem Gefolge in den von Weinbergen umgebenen Ort gekommen, um mit dem Schicksal der Menschen zu spielen. Werden die Flüchtenden entkommen? Oder werden sie gar gefangen? Oder verlieren sie sich für immer in der Leidenschaft des Bacchanals?"
Bei dieser Einleitung verwundert es kaum, dass der Seitenaufdruck der Schachtel neben einer Spieldauer von 2-3 Stunden das Spiel nur für erwachsene Spieler - derer 3-6 an der Zahl - empfiehlt.


Nur für Erwachsene
Dennoch geht Bacchanalia mit diesem doch sehr sensiblen Thema lobenswert behutsam um. Auch wenn die mythologischen Vorbilder für diese Bacchusfeste von sexuellen Exzessen oder etwa dem Reißen und Verschlingen lebenden Tieren berichten, so weist doch das Regelheft deutlich darauf hin, dass alle Spieler sich mit dem Erzählten wohl fühlen sollen und ihre Kameraden bitte darauf hinweisen, wenn die Geschichte eine unangenehme Wendung nimmt.

Auch mahnen die Regeln, sich nicht von Anfang an in wollüstigen Orgien oder blutrünstigen Gewalttaten zu ergehen. Das Niveau dieser Aspekte werde im Spielverlauf eh gesteigert, und ein überbordender Anfang führe eh nur in eine Sackgasse, die zu übertrumpfen nur schwer wäre.

Stattdessen gibt es wiederholte Beispiele für Spielsituationen, die der gewünschten Stimmung des Spiels zwar treu bleiben, aber eben auch gezielt dezent sind; sei es für den Geliebten eines Spielers, die Vorboten des kommenden Exzesses, oder das Beobachten eines überraschenden Gewaltverbrechens.
Bedenkt man das - wahrscheinlich vor allem für US-Amerikaner - heikle Grundthema, das auch sicher nicht in jeder Spielrunde auf den Tisch kommen kann, so schaffen es die Regeln doch vorbildlich, mögliche Berührungsängste zu zerstreuen.


Das Produkt
Bacchanalia basiert auf dem Indie-Rollenspiel Bacchanal, das 2005 von Paul Czege - am bekanntesten für My Life With Master - veröffentlicht wurde. Da dessen umständliche Anforderungen an den Würfelfundus der Spieler ein unglückliches Hindernis darstellten (dazu unten mehr), wurde das System zusammen mit Michele Gelli auf einen Kartenmechanismus umgearbeitet und bei dessen italienischem Verlag Narrattiva im Herbst 2012 veröffentlicht.

In der handlichen Pappschachtel von 6,5x9,0x3,2cm Größe finden sich 80 Karten und ein dickes schwarzweisses Regelheft von 84 Seiten, dass englische und deutsche Regeln beinhaltet. Die Karten selbst sind farbig mit Leinenprägung und von ordentlicher Qualität. Illustriert wurde das gesamte Spiel von Claudia Cangini, die ihre Herkunft vom Manga kaum verbergen kann.

Bildquelle: Narrativa/BoardGameGeek

Bacchanalia kostet im europäischen Raum laut Schachtelaufdruck 11,90 EUR, ansonsten werden 16,90 USD fällig. Alternativ wird auch die Deluxe Edition angeboten, die neben dem eigentlichen Kartenspiel eine Flasche Wein aus der Gemeinde Bertinoro in der Region Emilia-Romagna enthält. Insgesamt stehen Tropfen von 8 verschiedenen Keltereien zur Auswahl.
Ich selbst habe mich mit der einfachen Kartenversion begnügt, die auf der Essener Spielemesse für nur 10 EUR angeboten wurde.


Die Regeln
Die 80 Karten teilen sich auf in 18 Deuskarten mit diversen Motiven (zu diesen unten mehr), die eine erzählte Szene dominieren können, und 62 Umbrakarten mit gleichen Motiven, die ermitteln, welcher Deus denn im Spielverlauf am stärksten ist. Zusätzlich gibt es noch eine Umbrakarte mit dem Motiv der Parze, der Schicksalsgöttin. Wird diese im Spielverlauf aufgedeckt, wird der Umbrastapel neu gemischt.

Zu Spielbeginn werden die Deuskarten mit offen ausgelegt, reihum weist man nun einem anderen Spieler - nicht sich selbst! - je 1 Karte pro Durchgang zu, bis jeder 2 Karten vor sich liegen hat. Zusätzlich erhält jeder Spieler noch eine Vinum-Deuskarte. Einzig die Amans-Karte, die den Geliebten verkörpert, kommt erst zu einem späteren Zeitpunkt ist Spiel.

Schon durch diese anfängliche Verteilung der Karten offenbart sich eine gewisse Möglichkeit, die Erzählung zu steuern: So wird ein Spieler mit einem Accusator- oder Miles-Deus wohl schnell seinen Häschern begegnen, während ein Spieler mit einem Satyrus- oder Bacchus-Deus sich wahrscheinlich schnell inmitten der Hemmungslosigkeit des Bacchanals wiederfinden wird.

Bevor nun die eigentlichen Erzählrunden beginnen, ist jeder Spieler angehalten, etwas über die eigene Figur zu erzählen: Name und Hintergrund, den/die Geliebte(n) und das Verbrechen, dessen man angeklagt ist - und für das man nicht unbedingt die Schuld tragen muss. Wie in Erzählspielen üblich, wird empfohlen, nicht bloss gesichtslose Schurken, sondern Figuren mit persönlichen Motiven zu beschreiben, die der späteren Geschichte einen größeren Reiz geben.

Im eigentlichen Spielverlauf muss der Spieler, dessen Szene gerade an der Reihe ist, vier Umbrakarten ziehen. Solche, die sich das Motiv mit seinen ausliegenden Deuskarten teilen, ordnet er entsprechend zu und ermittelt schließlich den Deus mit den meisten Umbrakarten - den herrschenden Deus, der den Verlauf und Schauplatz der Szene vorgibt, zudem ändern sich zumeist die vor dem Spieler ausliegenden Deuskarten:

  • Gleichstand
    Eine beliebige Deuskarte wird zurück in die Tischmitte gelegt und die Figur wechselt vom gegenwärtigen, offensichtlich langweiligen Schauplatz zu einem anderen.
  • Pluto
    Der Pluto-Deus wird gegen einen Miles-Deus getauscht und der Schauplatz wechselt. Dort findet, passend zum Gott der Unterwelt, ein Gewaltverbrechen statt.
  • Minerva
    Der Minerva-Deus wird zurück in die Tischmitte gelegt. Ist man bereits mit dem eigenen Amans zusammengetroffen, beschreibt man ein neues Detail des/der Geliebten, ansonsten erhält man eine Nachricht oder schwelgt in einer Erinnerung.
  • Venus
    Der Venus-Deus wird zurück in die Tischmitte gelegt, dafür nimmt man den Amans-Deus. An einem neuen Schauplatz trifft man endlich auf den Geliebten; sollte diese Deuskarte nicht im Spiel sein, erinnert man sich an ihn.
  • Vinum
    Der Vinum-Deus kann im Beisein eines Satyrus-Deus einen Gleichstand gewinnen. Der Schauplatz kann wechseln, zudem beschreibt man die Ankunft einer neuen Person ODER ein dekadentes Ereignis. Die Hälfte aller Vinum-Umrakarten trägt außerdem ein Kartensymbol: Ist dies bei mindestens einer der Fall, so darf man eine neue Deuskarte aus der Tischmitte nehmen.
  • Satyrus
    Der Schauplatz wechselt und man beschreibt eine Szene sexueller Hemmungslosigkeit.
  • Bacchus
    Der Schauplatz bleibt und man beschreibt eine Szene ausufernder Dekadenz.
  • Accusator
    Der Accusator-Deus wird zurück in die Tischmitte gelegt, man nimmt dafür einen Miles-Deus. Abhängig von der Zahl der bereits aufgedeckten Parzen kommt der Ankläger immer näher und bezichtigt die Figur schließlich ihres Verbrechens.
  • Miles
    Der Accusator-Deus wird, wenn vorhanden, zurück in die Tischmitte gelegt. Abhängig von der Zahl der bereits aufgedeckten Parzen kommen die Häscher immer näher und verhaften schließlich die Figur schließlich ihres Verbrechens an - das Ende ihrer Erzählung
  • Amans
    Der Schauplatz wechselt und die Geschichte findet ein Ende mit glücklicher Flucht.
Ist Bacchus nicht der beherrschende Deus, so muss dessen Deuskarte weitergegeben werden, so dass sie stets unter den Spielern zirkuliert, bis sie schließlich eine Szene dominiert. Zudem gibt es die Möglichkeit, eine der vier Umbrakarten in die nächste eigene Szene mitzunehmen.

Auch wenn viele Deusmotive die Geschichte zu einem eindeutigen Ziel leiten - der Accusator führt zur Verhaftung, Bacchus oder Satyrn zu zunehmender Dekadenz - so zeigt sich dennoch eine dezente Möglichkeit, den Verlauf der Geschichte zu steuern: Durch die Vinum-Umbrakarten, die auch am häufigsten im Umbradeck enthalten sind, kann ein Spieler bei Vorhandensein des entsprechenden Symbols (auf 7 der insgesamt 14 Vinumkarten), um gezielt einen gewünschten Deus zu nehmen. Auch durch das Behalten einer der vier gezogenen Umbrakarten bis zur nächsten Runde kann man hoffen, auf einer der eigenen Deuskarten eine Mehrheit und somit die nächste Szene vorzubereiten.

Das Spiel endet, wenn eine von den Spielern im Vorfeld vereinbarte Bedingung eintritt: entweder eine bestimmte Spieldauer, eine bestimmte Anzahl von gezogenen Parzenkarten, oder dass jeder Spieler seine Endszene erreicht hat.


Virtuelle Karten
Bacchanalia nutzt zudem noch den steigenden Trend der Verknüpfung traditioneller Gesellschaftsspiele mit zeitgenössischen Medien. Über die Virtual-Reality-App Aurasma Lite (erhältlich für iOS und Android) können die Karten von Tablet oder Smartphone gescannt werden, worauf diese eindrucksvoll auf dem Display aufgeklappt werden und ihre Funktion in Klartext anzeigen.

Auf der Spielemesse wurde diese Funktion eindrucksvoll mit einem Tablet vorgeführt; und auch ein Demonstrationsvideo zeigt - neben einem sehr erwachsenen und stilvollen Ambiente, das so gar nicht zum Klischee von Nerds am Küchentisch entspricht - den Einsatz der App im Spielfluss.
Dennoch halte ich diese Funktion für nicht mehr als eine nette Spielerei, die mir den ladeintensiven Spass - so müssen doch die Animationen vor der Anzeige erst auf Tablet oder Smartphone heruntergeladen werden - nicht wert ist. Mit einem kurzen Referenzkärtchen, das man an jeden Spieler ausgeben kann, können die Kartenfunktionen sicherlich einfacher und weniger umständlich nachgeschlagen werden.


Der Vergleich zum Original
Die Kartenvariante hält sich sehr nah an Paul Czeges Original Bacchanal, das derzeit als Gratis-pdf angeboten wird. Sämtliche Deus-Aspekte und ihre Bedeutung für die Gestaltung der einzelnen Szenen ist unverändert geblieben. Der Zufallsaspekt für die Bestimmung des vorherrschenden Aspekts wurde allerdings durch eine Unmenge an sechs- und achtseitigen Würfeln gelöst, die für die eindeutige Zuordnung zu einem Deus in Farben wie Purpur, Schwarz, Rot, Gold, Silber oder Weiss vorzuliegen hatten. Allein für eine Runde mit vier Spielern wären insgesamt 42 Würfel (davon alleine 32 purpurne W6 für Vinum) nötig gewesen, was durch die kostengünstigere Kartenvariante natürlich viel kompakter gelöst wird.


Fazit
Bacchanalia ist sicherlich kein Spiel für jede Rollenspielrunde. Abgesehen vom spielleiterlosen Erzählspiel ist sicherlich auch der Inhalt, in dem Dekadenz, Sex und Gewalt eine wichtige Rolle spielen, nicht etwas, das man in jeder Gruppe auf den Tisch bringen kann.

Lässt man sich aber auf das Thema ein, so schafft es Bacchanalia, mit einfachen Mitteln den Fluss einer sehr persönlichen und sicher auch dramatischen Geschichte voranzutreiben. Dabei schätze ich sehr, dass das Medium Karten - mit deren Einsatz im Rollenspiel ich mich in letzter Zeit schon intensiv befasst habe - nicht nur zum reinen numerischen Würfelersatz oder Stichwortgeber verkommt, sondern einen neuen Kompromiss in der Mitte findet: Durch die Deuskarten ist der mögliche Fortgang meiner Geschichte bereits eingeengt, der Zufallsfaktor durch die Umbrakarten bestimmt aber letztlich, welcher dieser Aspekte zum Tragen kommt.
Tatsächlich würde ich diesen Mechanismus auch gerne einmal in anderen, weniger heiklen Hintergründen sehen, die eine skeptische Gruppe vielleicht zu einer Runde verleiten können.

Gerade bei dem verlockenden Preis von 11,90 EUR und der guten Produktqualität braucht sich Bacchanalia nicht vor anderen Rollenspielen zu verstecken, zumal es dank seiner Kartenform wirklich ungeheuer leicht mitzunehmen ist.

Werde ich in meiner Runde einmal Bacchanalia auf den Tisch bringen? Reizvoll ist es, aber derzeit hat Earthdawn bei unseren seltenen Runden die Priorität; und auch das Thema ist - wie mehrfach angesprochen - auch bei uns nicht für jeden etwas.

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