Die Tagträumer der Tepetua

28.12.2018
Die Blütezeit der Tepetua ist schon lange vergangen, ihre Kultur verkommen zu Ruinen und Mythen. Dennoch lebt eine Tradition ihres Volks bis heute fort: Die Kaste der Tonatimic, der Sonnenseher, die in der Dunkelheit der Nacht den nächsten Tag herbeiträumen sollen.


Vor vielen Jahrhunderten beherrschten die Tepetua den halben Kontinent. Ihre Kultur war fasziniert von dem ewigen Kreislauf von Tag und Nacht, von Vergehen und Wiedergeburt innerhalb weniger Stunden. Zudem waren die Tepetua der festen Überzeugung, dass es an ihnen, den Menschen liege, diesen Zyklus aufrecht zu erhalten. Während die Nacht der natürliche Zustand der Welt ist, obliege es dem Willen der Menschen, das Funkeln der Sterne zu bündeln und aus ihnen die Sonne zu erschaffen, damit sie für wenige Stunde Licht und Wärme spende. So habe es auch ihr Gott Cochuilli, das Schlafende Licht, zu Anbeginn der Zeit getan, und diese edle Aufgabe an sein auserwähltes Volk der Tepetua weitergegeben.

Denn das Erwachen der Sonne, das Herbeirufen des nächsten Tages war laut dem Glauben der Tepetua kein reiner Willensakt, den man bewusst begehen konnte. So wie der Tag seine Bedeutung durch lebensspendende Wärme hat, so ist der Zweck Nacht und des Schlafs, den nächsten Tag herbeizuträumen. Diese Kaste der Tagträumer, der sogenannten Tonatimic (übersetzt eigentlich: Sonnenseher) war bei den Tepetua hoch angesehen. Mit dieser Ehre kam jedoch auch ein Schicksal von Dunkelheit und Unfreiheit. Die Priester des Cochuilli waren nämlich überzeugt, dass nur wahre Sehnsucht nach dem Tageslicht die gleiche schöpfere Kraft würde freisetzen können wie die ihres Gottes. So wurden die Sonnenseher in den tiefsten Katakomben der Tempelanlagen eingesperrt, wo sie das Licht der Sonne nie mehr zu sehen bekamen. In diesem goldenen Käfig, wo es ihnen an Verehrung und Dienerschaft nicht mangelte, verbrachten die Tonatimic ihr ganzes Leben fast völliger Dunkelheit, auf dass ihr Verlangen nach dem Sonnenschein stark genug sei, um des Nachts den nächsten Tag herbeizuträumen.


Die Sonnenseher und die Priester des Cochuilli haben den Niedergang der Tepetua in ihren Katakomben über die Jahrhunderte überdauert. Immer verlassen die Geistlichen ihre Verstecke, um in den umliegenden Dörfern unter den Kindern nach neuen Sonnensehern zu suchen, auf dass auch ja der Zyklus von Tag und Nacht nicht unterbrochen wird. Besonders lebensfroher Nachwuchs, der ausgelassen unter dem Licht der Sonne spielt, ist bei den Priestern beliebt, denn bei ihnen erwartet man die größte Sehnsucht nach dem Tageslicht. So sind die Eltern in dieser Gegend in ständiger Sorge und gemahnen ihren Nachwuchs zu Zurückhaltung weniger Ausgelassenheit im Spiel, auf dass nicht das Wehklagen über die entführten Kinder die Dörfer erfüllen soll.


Hinter den Kulissen
Inspiriert hat mich beim Aufruf zur freien Interpretation des Begriffs "Tagträumer" im Forum der Rollenspielblogs natürlich der Opfermythos der Azteken, bei dem selbst die Götter ihr Leben geben müssen, um ein neues Zeitalter einzuläuten. Und Terry Pratchetts Interpretation des Schneevaters im Scheibenweltroman "Schweinsgalopp ("Hogfather"), dessen altertümliches Opfer in Wildschweingestalt zur Jahreswende das Aufgehen der Sonne sicherte, hat sicherlich auch hineingespielt.
Deshalb auch die Artikelillustration im mesoamerikanischen Stil, ein aus dem Zusammenhang gerissenes Motiv des Codex Laud bei dem zumindest jemand bedrückt eingesperrt aussieht - das erhoffte Bild eines Schläfers habe ich trotz ausgiebiger Suche nicht gefunden.



Dieser Artikel ist ein Beitrag zum Karneval der Rollenspielblogs im Dezember 2018 mit dem Thema "Kopfkino und Tagträume". Die Moderation liegt bei Dnalor, alle Beiträge des Monats werden zudem in diesem Thread des Forums der Rollenspielblogs aufgelistet.
Das Stichwort des "Tagträumers" haben derweil auch Dnalor sowie d6ideas zu SLA Industries und Warhammer 40K interpretiert.


Bildquelle
Ausschnitt aus "Codex Laud (folio 39)" via Wikimedia Commons

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen