Mechaniken der Moral

13.12.2011
In diesem Monat erging im Forum der RSP-Blogs zum ersten Mal der Aufruf, sich am neu gegründeten Rollenspiel-Karneval zu beteiligen. Bei diesem RSP-Umzug - etwas holprig eingedeutscht aus dem englischen Vorbild, dem RPG-Carnival - werden Blogger ermuntert, sich in einem ihrer Artikel zum Thema des Monats zu äußern. Für Dezember 2011 fiel dabei die Wahl auf Moral im Rollenspiel.


Da Spiele Im Kopf sich ja mit der Mechanismus-lastigen Seite des Spieldesigns befasst, will ich zu diesem Thema beleuchten, unter welchen verschiedenen Ausprägungen dieser Begriff Einzug in harte Rollenspielregeln findet. Und da gerade Moral eben keinen so festen Platz in Regelwerken einnimmt wie etwa Attribute, Fertigkeiten oder Talente, ergeben sich dabei etliche Varianten  - sei es als abstrakter Attributswert, Modifikator oder eben auch Maßstab für ethisches Verhalten.


Variante 0: Wargames - Der Vorfahre
Im Urahn des Rollenspiels, den CoSims, nimmt die Kampfmoral der geführten Truppen bis heute einen wichtigen Platz ein. Viele dieser Schlachtensimulationen haben Regeln dafür, ob die eigenen Mannen noch gewillt sind, ihren Befehlen zu folgen. Die Mechanismen dabei mannigfaltig: Von Blast Markern bei Epic Armageddon, die einzelne Figuren in Formationen vom Schießen abhalten, über den Vergleich der Truppenverluste und resultierende Mali auf das Leadership-Attribut bei Warhammer, bis zu einer reinen Eigenschaft von spezielen Anführern bei Panzer Grenadier.

Auch Chainmail, der direkte Vorläufer von Dungeons & Dragons, ergeht sich in einer aufwändigen Rechnerei, bei der die Anzahl der Verluste beider Seiten gegengehalten werden, um schließlich anhand von Basismoral und Truppenstärke auf einer Tabelle das Verhalten des Verlierers zu bestimmen.


Variante 1: Massenkämpfe im Rollenspiel
So ist es auch kaum verwunderlich, daß auch in Rollenspielen, die unter anderem Regeln für größere Schlachten anbieten, die Kampfmoral eine Rolle spielt.

Bei Savage Worlds kommt dies bei Schritt 4 von Massenkämpfen zum Tragen: Verliert eine Armee einen oder mehrere ihrer Marker, so macht der Anführer einen Spirit-Wurf modifiziert nach insgesamt verlorenen Markern oder der Zusammenstellung der Truppen - Untote und Soldaten mit dem Rücken zur Wand sind nur schwer aufzureiben. Misslingt der Wurf, ist die Armee schlicht besiegt.
Auch das Herr-Der-Ringe-Rollenspiel von Pegasus/Decipher verweist in seinen Schlachtenregeln auf die Moral: Einheiten haben ein entsprechendes Moralattribut, das den Zielwurf für explizite Versuche darstellt, die Einheit durch Fertigkeiten wie etwa "Einschüchtern" aufzureiben: Intimidate etc. Generelle Zermürbung im Kampfverlauf wird jedoch nicht abgebildet.
In der 5. Edition von Pendragon letztlich bietet das Kapitel über große Schlachten zwar kein Moralattribut, dafür aber Regeln für das Sammeln von verstreuten Einheiten mit vergleichbarem Effekt
Für die Saga Edition von Star Wars d20 finden sich Regeln für Schlachten lediglich im Quellenbuch The Clone Wars, wo Einheiten wertmässig wie Charaktere gehandhabt werden. Allerdings hat der Spielleiter die Möglichkeit, Truppen unter anderem wegen derer aktueller Moral Zustände wie "Advantaged" oder "Disadvantaged" mit Auswirkungen auf deren Trefferpunkte und Kampffertigkeiten zuzuweisen.

Letztlich gibt es natürlich auch Beispiele für Systeme, die zwar auch Schlachtenregeln beinhalten, nicht aber die Moral der Truppen abbilden. So glänzte der Anhang von Im Rausch der Ewigkeit, des 7. Teils der Borbaradkampagne für Das Schwarze Auge, zwar mit entsprechenden Regeln und einer Vielzahl von Pappcountern, aber abgehandelt wurde lediglich der reine Schlagabtausch - Kampfmoral spielte hier keine Rolle.


Variante 2: Die spezialisierte Fertigkeit
Diese im Kampf wichtige Motivation Untergebener findet sich in sehr spezieller Form beim Cortex System und Shadowrun. Beide sehen Moral zwar in dem gleichen Kontext wie die alten Wargames, setzen dies aber lediglich als eine Spezialisierung einer übergeordneten Fertigkeit um.
So ist bei Serenity (Cortex) Morale eine Spezialisierung des General Skills "Discipline", um bei entsprechender Anwendung den Würfeltyp zu erhöhen.
Ähnlich dazu findet sich bei Shadowrun 4e Moral als Spezialisierung der sozialen Fertigkeit Führung.


Variante 3: Das reine Monsterattribut
Nachdem Dungeons & Dragons 1975 viele Elemente, die bei Wargames noch durch abstrakte und mitunter klobige Regeln dargestellt wurden, an die freie erzählerische Entscheidung der Spieler abgegeben hatte, blieb die Frage der Kampfmoral dennoch ein fester Bestandteil der Regeln. Tatsächlich haben sich gerade bei D&D über die verschiedenen Editionen große und kleinere Änderungen in der Interpretation offenbart, die zumindest bis hin zur Roten Box bereits bei Cinerati ausführlich aufgeführt wurden.

So gab es bereits in D&D die Möglichkeit, Gefolgsleute anzuheuern, auch durch Magier betörte Monster konnten explizit dazu gehören - auch wenn bemerkt wurde, Monstern sei grundsätzlich nicht wirklich zu trauen. Bei gefährlichen oder zermürbenden Situationen konnte der Dungeon Master auf einer Tabelle gegen die Moral der Schergen würfeln, ob diese nicht doch das Weite suchen. Der Charismawert des anheuernden PCs sowie die Entohnung dienten dabei als Modifikatoren. Eine derartige Regelung übernehmen heute auch OSR-Systeme wie etwa Labyrinth Lord.
Beim anschließenden Advanced Dungeons & Dragons wurde die Moral zu einem Attribut, wenn auch nur für die Monster. Die Basismoral betrug 50%, plus weitere 5% pro Trefferwürfel. Mächtige Monster waren durch diese Regeln natürlich kaum mehr zum Rückzug zu bewegen, auch wenn es eine ausführliche Tabelle mit möglichen Modifikatoren gab.


Variante 4: Der schlichte Modifikator

Seit d20 ist die Moral bei D&D zu einem reinen Modifikatortyp verkommen. In dieser Fassung von Dungeons & Dragons werden Boni und Mali nicht mehr vollständig aufaddiert, stattdessen gilt immer nur genau ein Bonus eines bestimmten Typs, während aber die Boni verschiedener Typen zusammengerechnet werden dürfen. Dementsprechend unterscheidet d20 nach einer Vielzahl von verschiedenen Modifikatortypen, von den eine eben die "Moral" ist.


Variante 5: Die Definition der Gesinnung
Dungeons & Dragons verwendet den Begriff "Moral" auch noch in einem anderen Kontext: dem der in diesem System seit jeher vorhandenen Gesinnung. Hier jedoch dient das Wort lediglich der reinen Begriffsklärung, indem die so ausgedrückte Haltung umschrieben wird als "die grundsätzliche moralische und ethische Einstellung einer Kreatur". Auch Ableger von d20 wie beispielweise Pathfinder, die das Konzept der Gesinnungen übernommen haben, nutzen diesen Begriff ebenfalls in ihrer Erläuterung.

Regeltechnische Konsequenzen hat die Gesinnung allerdings nicht, sieht man einmal von Restriktionen für bestimmte Klassen - der rechtschaffen gute Paladin ist hier sicherlich ein Klassiker - oder Ausrüstungsgegenstände ab. Auch werden Verstösse gegen die eigene Gesinnung in d20 nicht großartig geahndet, zuletzt gab es diese Option für Dungeons & Dragons in AD&D 2e. Dort wurden bei gehäuftem unpassenden Verhalten mehr Erfahrungspunkte für die nächste Stufe nötig; auch konnte die Gesinnung dadurch wechseln.


Variante 6: Die richtigen Dinge tun
Auch wenn dort der Begriff "Moral" nicht mehr fällt, so gibt es doch einige Systeme, die das Tun der Spieler regeltechnisch dokumentieren und bewerten.

So wartete Pendragon seit jeher mit gegensätzlichen Merkmalen auf, die die Charakterzüge eines Ritters abbilden sollen. Dreizehn solcher Paare sind geboten, wie etwa Keusch/Lüstern, Großzügig/Selbstsüchtig oder Ehrenhaft/Feige - ethisch wertend sind diese Paare allerdings nicht.
Da die Summe pro Paar grundsätzlich 20 nicht übersteigen darf, kann ein Charakter mitunter sehr stark in die eine oder andere Richtung tendiern, und wird die Eigenschaft bei einer Probe unterwürfelt, so handelt der Charakter auch danach.

Stärkere Konsequenzen folgen da aus der optionalen Regel für Talentkrisen in Earthdawn. In diesem Hintergrund sind die Disziplinen mehr sind als die reinen Klassen aus D&D und vergleichbaren Systemen, statt dessen stellen sie die Sicht eines Charakters auf das wahre Wesen der Welt und die eigene Rolle darin dar, aus der sich auch die eigenen, latent magischen Fähigkeiten speisen. Verstösst man zu oft gegen diese Prinzipien, so kann dies mit entsprechenden Abzügen auf diesen Talentgebrauch führen, im Extrem eine läuternde Queste verlangen können.
Auch hier ist diese Talentkrise nicht ethisch wertend, da sich die Helden dem Wohl der Provinz Barsaive nach der verheerenden Geißel durch die Schrecken verschrieben haben.

Ansätze einer moralischen Einschätzung des Tuns der Charaktere findet man bei My Life With Master. So bietet dieses Rollenspiel über die unglücklichen Handlanger eines skrupellosen Meisters seinen Protagonisten lediglich die beiden Attribute Überdruss und Selbstverachtung, wobei letzteres ansteigen kann, wenn der Herr seinem Schergen explizit böse Taten und Gewalt gegen andere befiehlt.

Auch Vampire: The Masqerade bemisst durch den Wert der Menschlichkeit, wie nah ein Blutsauger bereits an der rasenden Natur der Bestie ist. So kann die Menschlichkeit eben durch brutale und eben auch ammoralische Taten sinken, bis bei einem Wert von Null die Bestie endgültig die Oberhand gewinnt.

Eine wirklich klassische Trennung in Gut und Böse letztendlich bot beispielsweise das Der-Herr-Der-Ringe-Rollenspiel von Decipher/Pegasus. Charaktere können hier vom Schatten in Versuchung geführt werden; und misslingt eine entsprechende Willenskraftprobe, so erhält man Punkte in Verderbnis. Erreichen diese letztendlich den gleichen Wert wie das Attribut Auftreten, so ist der Charakter verdorben und geht in die Hände des Spielleiters über.

Auch die diversen Inkarnationen der Star-Wars-Rollenspiele haben Regeln, nach denen ein Charakter auf die Dunkle Seite wechseln kann. So erhielt man beim d6-System von West End Games Dark Side Points für böse Taten und musste direkt würfeln: War der Wurf mit 1W6 kleiner als die Summe der eigenen DSP, so war die Figur an die Dunkle Seite verloren.
Auch Star Wars d20 vergab Dark Side Points und liess direkt nach deren Erhalt würfeln: Misslang eine Willenskraftprobe gegen 10+(Summe DSP), so war auch hier der Charakter zu Dunklen Seite bekehrt. Erreichte die Summe der Dark Side Points gar den Wert des Willenskraftattributs, so konnte diesen Fall nichts mehr verhindern. Um den schleichenden Wandel auch in Regeln abzubilden, bekam ein Charakter in der Original und Revised Edition - einen Bonus auf die Anwendung dunkler Machtfertigkeiten, wenn seine Dark Side Points mindestens der Hälfte des Willenskraftattributs entsprachen. Erst in der Saga Edition entfiel diese Regel.

Auffällig ist hier, dass die einzigen Spiele mit deutlichen Regeln zur ethischen Bewertung auf Buch- bzw. Filmlizenzen beruhen, bei denen die eindeutige Trennung von Gut und Böse eine tragende Rolle spielt.


Ein Fazit
Wie schon eingangs erwähnt, spielt die exakte regeltechnische Abwicklung von Moral in den meisten Rollenspielen nur eine nebensächliche Rolle; und im Zusammenhang mit der Bewertung tugendhaften Verhaltens der Spielercharaktere ist sie fast gar nicht vorhanden. Verwundern mag dies allerdings nicht: So ist es doch der Kern des Rollenspiels, die freie Entscheidung über das Tun und Lassen der Charaktere in die Hände der Spieler zu legen und diese eben nicht wie im Brettspiel innerhalb strikter mechanischer Grenzen abzuarbeiten.

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