Der Tesla-Eiffel-Turm

19.05.2016
„Zur gestrigen Eröffnung der Weltausstellung 1889 in Paris gelang den französischen Gastgebern ein wahrer Paukenschlag, der eine neue Ära einläuten wird. Durch das einfache Umlegen eines Hebels ließ Staatspräsident Carnot die Spitze des umstrittenen Tesla-Eiffel-Turms in einem Gewitter von Blitzen erstrahlen, die sämtliche Gebäude des umliegenden Ausstellungsgeländes ohne irgendwelche Leitungen mit Elektrizität versorgten. Der nächste Schritt in eine moderne, nach vorne gerichtete Zukunft ist gemacht!“


Tesla, Architekt der Zukunft
„Möglich wurde diese Meisterleistung der Ingenieurstechnik durch die Zusammenarbeit zweier Könner ihres Fachs. Die gewagte Stahlkonstruktion des Turms wurde ersonnen vom Ingenieursbüro Gustave Eiffel, das sich durch seine kühnen Brücken- und Gebäudeprojekte bereits weltweit einen Namen gemacht hat. Die bahnbrechende Form der Energieversorgung wurde ersonnen von Nikola Tesla, der schon mit seiner kabellosen Elektrifizierung des Gare de l’Est vor fünf Jahren für Aufsehen sorgte. Mit der Energieübertragung über das ganze Ausstellungsgelände ist dem gebürtigen Kroaten ein weiterer Meilenstein gelungen. Premierminister Charles de Freycinet verkündete der versammelten Presse bereits, dass diese Technik in den kommenden Monaten zur unkomplizierten Stromversorgung von ganz Paris erweitert werden solle. Bis zur Jahrhundertwende plane man, sogar ganz Frankreich auf diese Weise zu elektrifizieren.

Der österreichisch-ungarische Außenminister Kálnoky beeilte sich nach der spektakulären Eröffnungsfeier, die Meisterleistung seines Landesgenossen Tesla in höchsten Tönen zu loben. Die Donau-Monarchie bleibt der diesjährigen Weltausstellung fern, da sie wie die meisten anderen europäischen Königshäuser den Anlass dieser Veranstaltung zum hundertsten Jubiläum der französischen Revolution scharf kritisiert.

Im Begeisterungstaumel des Publikums gingen andere vorgestellte Neuheiten unter, die im Vorfeld als Höhepunkte der Ausstellung gehandelt worden waren; so etwa der Phonograph des US-Amerikaners Thomas Edison oder der Benzinmotor des deutschen Ingenieurs Gottlieb Daimler. Derweil bilden sich lange Schlangen vor dem Tesla-Eiffel-Turm, um diesen Monumentalbau des eingeläuteten elektrischen Zeitalters aus der Nähe zu betrachten.“

(Julien Denaux, Artikel aus Le Figaro 07.05.1889)


Das Lichterspiel des nächtlichen Tesla-Eiffel-Turms wurde 1889 zu einem beliebten Postkartenmotiv.


Empörung und Kritik
Auch wenn der oben zitierte Bericht eines enthusiastischen Journalisten eine weitreichende Begeisterung der Pariser Bevölkerung schildert, so war der Tesla-Eiffel-Turm schon während seines Baus schon heftig umstritten. Gerade konservative Bürger beschwerten sich über die Verschandelung der klassizistischen Architektur, die der französischen Hauptstadt so ein harmonisches Gesamtbild gibt. Auch die Ankündigung der Regierung, die Elektrifizierung mittels Teslas drahtloser Energieübertragung in der ganzen Stadt einzuführen, führt aufgrund der dazu nötigen Antennenkonstrukte auf den Hausdächern zu Protesten. Bedeutende Wissenschaftler hingegen tun das Projekt als wenig durchdacht ab, wie wolle die Regierung denn überwachen und abrechnen, wer auf diesem Wege welche Mengen Elektritität konsumiere? Der Strompiraterie würden so Tür und Tor geöffnet, auf Kosten der rechtschaffenen Mitbürger.

Auch die eindrucksvolle Technik mit ihren Blitzentladungen ist vielen Pariser Bürgern sehr suspekt. Gerüchte verbreiten sich über plötzliche Blitzschläge bei strahlendem Sonnenschein, die schon die ersten Todesopfer gefordert hätten. Metallene Gegenstände, die man mit sich führt wie Regenschirme, Taschenuhren, ja sogar Spazierstöcke würden diese Entladungen anziehen und stellten nun eine Gefahr für Leib und Leben dar.
Auch Thomas Edison äußert sich vor der Presse kritisch vor Teslas Entwicklung und warnt vor den Gefahren; allerdings vermuten hier viele, dass der Ingenieur stattdessen Werbung für seine Elektrifizierung durch die Gleichstromerzeugungsstationen seiner Firma General Electric machen will.

Derweil ist die österreich-ungarische Elite in Aufruhr, nachdem einer ihrer Landesgenossen dem französischen Rivalen eine solche technische Errungenschaft ermöglicht hat. Die Nachwirkungen dieser Erfindung werden in diplomatischen und wissenschaftlichen Kreisen wohl noch lange zu spüren sein.


Adaption zum Rollenspiel
Diverse Rollenspielhintergründe bedienen sich alternativer technologischer Entwicklungen zum Ende des  19. Jahrhunderts oder deren Einfluss auf die folgenden Jahrzehnte, so dass die drahtlose Energieübertragung durch den Tesla-Eiffel-Turm und dessen Auswirkungen dort gut einzubringen sind.

GURPS Gernsback
In dem Quellenband GURPS Alternate Earths wird unter anderem die Paralleldimension Gernsback beschrieben, benannt nach dem Herausgeber des Magazins Amazing Stories. Hier heiratete Tesla im Jahr 1893 die Tochter von J.P. Morgan, was ihm langfristige finanzielle Sicherheit für seine Forschungen garantierte. Gernsback erlebte eine technische Revolution im Stil der 1930er-SF, in der die drahtlose Energieübertragung Alltag ist. Die oben erwähnte Strompiraterie ist hier ein alltägliches Verbrechen.
Dieses Setting war auch meine ursprüngliche Inspiration für den Tesla-Eiffel-Turm.

FATE Atomic Robo
Nikola Tesla und seine bahnbrechenden Erfindungen sind ein treibendes Element dieses Settings, ebenso dessen Rivalität mit Thomas Edison. Der geschichtliche Verlauf orientiert sich grob an den wahren historischen Begebenheiten: so arbeitet Tesla auch hier mit George Westinghouse zusammen, und der ab 1901 für Experimente mit der drahtlosen Energieübertragung errichtete Wardenclyffe Tower dient 1908 zur Abwehr einer Invasion von Außerirdischen. Vor diesem Hintergrund sollte es leicht fallen, Tesla die erfolgreiche Entwicklung der drahtlosen Stromübertragung bereits im Jahr 1889 anzudichten.

Space 1889
Während die Spieler durch den Äther das Sonnensystem erkunden, gibt man sich auf der Erde fortschrittsgläubig und vertraut auf die Möglichkeiten der Elektrifizierung. Laut offizieller Zeitleiste hat Tesla sich in diesem Setting ein von Westinghouse finanziertes Labor im Erdorbit eingerichtet, und im Handlungsjahr 1889 ist natürlich auch die Pariser Weltausstellung ein Thema, das die Bevölkerung bewegt. Passende Illustrationen des Regelwerks zeigen den Eiffelturm zwar als Anlegestelle für Zeppeline, aber hier muss der Spielleiter notfalls improvisieren.

Castle Falkenstein
Zwar ist die magisch-industrielle Welt von Castle Falkenstein bereits elektrifiziert und kennt Maschinerie wie etwa machtvolle Blitzkanonen, allerdings ist Tesla zum offiziellen Handlungsjahr 1870 dieses Hintergrunds gerade einmal 14 Jahre alt. Auch Eiffels erste großen Projekte stehen noch aus. Statt die Zeitleiste ganze 19 Jahre vorwärtszudrehen mag der Spielleiter diese Entwicklungen vielleicht anderen Ingenieuren zuschreiben.


Aus den Geschichtsbüchern
In Wirklichkeit kehrte Nikola Tesla Europa bereits im Juni 1884 den Rücken und zog nach New York, wo er für wenige Monate in der Firma Thomas Edisons arbeitete. Nach diversen wenig erfolgreichen Firmengründungen wurde er bei Westinghouse Electric als Berater eingestellt, die sich mit Edison um die Durchsetzung von Wechsel- oder Gleichstrom für die Versorgung des Landes im Wettstreit befanden. Als Westinghouse den Auftrag erhielt, die Weltausstellung 1893 in Chicago mit ihrem Wechselspannungssystem zu versorgen, konnte sich dieses aber endgültig durchsetzen. Spätestens ab der Weltausstellung 1900, die erneut in Paris stattfand, war die Elektrifizierung der Welt endgültig ins Rollen gekommen. Ab 1901 widmete sich Tesla schließlich ausschließlich der drahtlosen Stromübertragung über die Ionosphäre. Der zu diesem Zweck erdachte Wardenclyffe Tower wurde aber wegen der zunehmend prekären finanziellen Situation Teslas nie fertiggestellt.

Die Idee einer Turmkonstruktion als Wahrzeichen des technischen Fortschritts kam in Frankreich schon 1881 erdachten Sonnenturm auf. Nachdem die französische Regierung im Mai 1884 das Vorhaben der Weltausstellung für das Jahr 1889 verkündet hatte, gewann das Ingenieursbüro Eiffel mit seinem Turmprojekt den Wettbewerb für die Errichtung des Pariser Gebäudes. Schon zur Weltausstellung 1867 – auch diese in Paris – hatte Eiffel die Maschinenhalle (frz. Galerie des Machines) errichtet.

Auch wenn Tesla und Eiffel nie miteinander zu tun hatten, so führte ihre berufliche Laufbahn sie doch an ähnliche Wirkungsstätten. So errichtete Eiffel im Jahr 1875 den Budapester Westbahnhof, während Tesla von 1881 bis 1882 dort lebte und auch eine Anstellung als Telegrafenamtstechniker beim damaligen europäischen Repräsentanten von Edisons Firmen fand. Von November 1883 bis Februar 1884 betreute Tesla die neu installierte elektrische Beleuchtung am Gare de l’Est in Paris. Drei Monate später verkündete man in der französischen Hauptstadt das Vorhaben für die Weltausstellung in fünf Jahren. 1889 schließlich, dem Jahr des Ereignisses selbst, weilte Tesla ein weiteres Mal in Paris, bevor nach New York zurückkehrte und ein Labor für Experimente mit hochfrequenten Wechselströmen einrichtete. Die Idee der drahtlosen Energieübertragung sollte ihn schon zu diesem Zeitpunkt nicht mehr loslassen.




Dieser Artikel ist ein Beitrag zum Karneval der Rollenspielblogs im Mai 2016 mit dem Thema "Auswüchse der Wissenschaft". Die Moderation liegt bei Gloria und ihren Nerd-Gedanken, alle Beiträge des Monats werden zudem in diesem Thread des Forums der Rollenspielblogs aufgelistet. Besondere Erwähnung verdient die dazugehörige Serie auf d6ideas, die sich anschickt, jeden Tag einen anderen Auswuchs zu beschreiben.



Bildquellen
Die obige Postkarte ist eine Kombination des zur Weltausstellung 1900 illuminierten Eiffelturms mit einer Teslaspule. Ich war versucht, ein Bild des Turms vom eigentlichen Jahr 1889 zu verwenden, das mit seinen grellen Leuchtkegeln wahrlich wie die Erfindung eines verrückten Wissenschaftlers aussieht - aber zum Konzept des vollständig ausgeleuchteten Ausstellungsgeländes passt das Foto von 1900 dann doch besser.

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