Archiv der Demoabenteuer I: Der Herr der Ringe (CODA)

24.06.2018
Anfang der 2000er wagte Decipher, vor allem bekannt für Sammelkartenspiele zu diversen namhaften Lizenzen, auch den Sprung in den Rollenspielmarkt. Da ich kurz zuvor in die Supporter für das Lord-of-the-Rings-CCG aufgenommen worden war, nahm ich mich auch der Unterstützung für das neu erschienene Lord of the Rings Roleplaying Game nach dem hauseigenen CODA-System an.


Decipher und das CODA-System
Bei seinem Debüt auf dem Rollenspielmarkt präsentierte Decipher auch seinen eigenen Regelkorpus, der erstmals im Star Trek Roleplaying Game von 2002 anzutreffen war. Im gleichen Jahr erschien auch das Lord of the Rings Roleplaying Game, das dieses System auf die Eigenheiten von Tolkiens Welt anpasste. Dabei konnten auch einige mehr oder weniger namhafte Designer gewonnen werden: so zum Beispiel Matt Forbeck, schon für MERS von ICE geschrieben hatte; Steven S. Long, einer der Gründer von HERO Games; oder Christian Moore, der sowohl beim Star Trek Rollenspiel für Last Unicorn Games als auch Decipher involviert war.

   

Das CODA-System war für mein Empfinden geradlinig und arbeitete mit vielen bekannten Komponenten: Sechs Attribute, an DnD 3e erinnernde Fertigkeiten zusammengesetzt aus Attributsbonus und Fertigkeitsrang sowie diverse Vor- und Nachteile. Gewürfelt wurde mit 2w6 plus Fertigkeitswert gegen einen Zielwert. In sehr guter Erinnerung habe ich vor allem die Charaktererschaffung: Die Völker und Berufe waren in diverse Pakete aufgeteilt: Elfen beispielsweise in Noldo, Sindar oder Silvan, Krieger zum Beispiel in Kundschafter, Reiter, Landbüttel oder Fernkämpfer. Jedes Paket vergab einen Satz an Fertigkeitsrängen eine Auswahl an Vor- und Nachteilen, so dass eine neue Figur in sehr kurzer Zeit zusammengestellt werden konnte.

Deciphers Schritt in die Rollenspielwelt began auch sonst vielversprechend: Das LotR-RPG gewann 2003 den Origins Award als „Best Roleplaying Game 2002“. Über die nächsten Jahre erschienen Quellenbücher zu Kreaturen und den ersten beiden Filmen/Buchbänden, zudem eine Box über das Zwergenreich Moria. Zugleich erschien bei Pegasus auch eine deutsche Fassung.

Viel Erfolg war dem CODA-System und seinen beiden Ablegern aber nicht beschieden; der Zuspruch in der Rollenspielgemeinde war eher verhalten. 2005 schrieb Decipher zudem wegen der schlechten Verkaufszahlen bei neuen Sammelkartenspielen zu Animelizenzen Verluste, zudem stellte sich später heraus, dass der Schwager des Firmengründers bereits seit dem Jahr 2000 Firmengelder veruntreut hatte. So erschien 2005 mit dem Quellenbuch Helm’s Deep das letzte Printprodukt, auf das nur zwei reine pdf-Veröffentlichungen folgten. Auch Pegasus verzichtete auf eine Veröffentlichung der bereits übersetzten Moria-Box. 2007 verlor Decipher dann auch die Lizenz zum Herrn der Ringe und zu Star Trek, womit die alte Glorie des Verlags endgültig verblasst war. So bleibt das Herr der Ringe-Rollenspiel von Decipher nur eine Fußnote in den Annalen des Hobbys, eingezwängt zwischen das langlebige MERS und das erfolgreichere The One Ring.

Nun aber zurück zu den aussichtsreichen ersten Tagen. Auf der Spiel in Essen 2002 war ich zum ersten Mal für Decipher auf dieser Messe im Einsatz, nachdem ich dort zuvor schon Jahre als eifriger Käufer und erfolgloser Sammelkartenspieler verbracht hatte. Statt aber das Kartenspiel zu bewerben, fragte ich explizit nach Möglichkeiten, das Rollenspiel zu bewerben, und entwickelte Mangels Vorlagen gleich drei passende Szenarien, die ich Interessierten anbieten konnte.


Vorgefertigte Charaktere
In jugendlichem Eifer baute ich für meine Szenarien zahlreiche Charaktere, die die Beispiele aus dem Grundregelwerk ergänzten und die Vielseitigkeit von Mittelerde abdecken sollten. Von einem beornischen und einem zwergischen Krieger über einen rohirrischen Reiter oder einen Fürsten der Dunadan bis hin zu einem Sheriff der Halblinge und einem elfischen Schützen war auch tatsächlich eine große Bandbreite dabei. Am interessantesten ist rückblickend aber der gelehrte Noldo, dem ich passend zu seinem Alter wahnsinnig hohe Fertigkeitswerte verpasst hatte – wenn auch in für die Szenarien unnützen Kenntnissen wie Edelsteinschleifen, Geschichte oder Komposition. Seine geringen Erfahrungen mit dem Schwert hatte der Charakter sich eher notgedrungen aneignen müssen, als er zum Ende des Zweiten Zeitalters mit den Menschen gegen Sauron stritt.


Szenario 1 – Die Festung von Umbar
Teaser: „Eine kleine Flotte von Gondor rüstet sich zur Schlacht gegen die Korsaren“

Auch abseits der Abenteuer aus dem „Herrn der Ringe“ und dem „Hobbit“ waren die Hauptfiguren nicht untätig, so dass ich eines dieser Ereignisse für ein Einstiegsszenario auswählte, um interessierten Spielern den weiteren Rahmen des Settings nahezubringen. So diente Aragorn II rund sechzig Jahre vor dem Ringkrieg unter dem Namen Thorongil sowohl König Thengel von Rohan als auch dem gondorianischen Truchsessen Ecthelion II. Für letzteren überfiel der spätere König auch den Korsarenhafen Umbar, um die Bedrohung durch die Schwarzen Numenorer abzuwenden. Für mein Szenario sollten die Figuren die Vorhut dieses Überraschungsangriffs darstellen.

Nach dem möglichst unbemerkten Eintreffen in der Hafenanlage von Umbar – hier sind auch die ersten Fertigkeitsproben nötig – müssen die Abenteurer ebenso heimlich die schwere Eisenkette der Einfahrt senken. Schon bald darauf beginnt die große Schlacht, in der die Helden vor allem verhindern müssen, dass das Tor zur inneren Stadt geöffnet wird und so weitere Korsaren aus der dortigen Garnison in den Kampf eingreifen können. Währenddessen werden sie auch Thorongils gewahr, der sich zum Zweikampf mit dem Befehlshaber des Hafens stellt. Nach der siegreichen Rückkehr nach Gondor werden die Kämpen als Helden gefeiert, Thorongil jedoch ist bereits in andere Lande aufgebrochen.

Rückblickend wundere ich mich, wie wenig aus dem vielversprechenden Aufhänger herausgeholt habe. Das Abenteuer enthält nur vage Andeutungen und Zielwerte für Proben, wo die Spieler aktiv werden können, ohne eine klare Missionsbeschreibung oder gar verschiedene Handlungsoptionen voranzuschicken, die in einem Einsteigerabenteuer sicher hilfreich gewesen wären. Am Ende dürfen sich dann alle zusammen ein wenig mit den heranstürmenden Korsaren kabbeln, bei dem in den Anhängen zum Herrn der Ringe beschriebenen großen Kampf Aragorns, Entschuldigung, Thorongils gegen den Hafenkommandanten aber nur zusehen. So ein Blödsinn, wenn der Heerführer schon die Charaktere als seine Vorhut auswählt, dann sollte er ihnen doch auch bei diesem Zweikampf ausreichende Unterstützung zutrauen.

Genug Potential für eine Überarbeitung wäre also da, wenn ich gegenwärtig in Mittelerde spielleiten wollte. Tatsächlich hat mich dieses Abenteuer auch in den folgenden Jahren nie wirklich losgelassen, so dass ich immer wieder überlegt habe, ob dies nicht den Auftakt für eine ganze Kampagne als Spione in den feindlichen Südlanden sein könnte. Tatsächlich habe ich diese Idee dann auch vor einiger Zeit für den Karneval der Rollenspielblogs endlich weitergesponnen.


Szenario 2 – Die Brut von Ungoliant
Teaser: „Neues Unheil aus Dol Guldur bedroht den Düsterwald“

Im zweiten Szenario wollte ich den Einfluss des Feinds in den Vordergrund stellen, deshalb entschied ich mich hier für den Düsterwald. Nicht nur haust hier Spinnenbrut, sondern in der Feste von Dol Guldur auch wieder die Ringgeister, nachdem der Totenbeschwörer sich wieder seines wahren Selbst als Sauron bewusst geworden ist.

So sind die Abenteurer also Begleiter einer Handelskarawane, die auf der Alten Waldstraße den Düsterwald durchqueren möchte. Das Nachtlager wird aber von Spinnen überfallen, so dass die Charaktere sich auf die Suche nach den entführten Kumpanen machen müssen. Sollten sich Spieler für Elfen entschieden haben, stoßen diese erste bei dieser Suche zu der Gruppe. Der erste Fund, bei dem die Abenteurer schon einige kleine und weniger kleine Spinnen bekämpfen müssen, führt aber nur zu Kokons mit den bereits toten Lastpferden. Die Händler wurden zur Spinnenmutter Malacostra gebracht, einem fast pferdgroßen (und damit törichterweise ähnlich gewaltig wie Kankra) Vieh inmitten eines undurchdringlichen Geflechts aus Spinnweben, wo der zweite, finale Kampf ansteht.

Rückblickend kann ich dazu nur eines sagen: Laaangweilig. Spuren suchen, kämpfen, noch mehr Spuren suchen, noch mehr kämpfen. Eigentlich geben doch sowohl die Spinnen des Düsterwalds im Kleinen Hobbit als auch Kankra aus dem Herrn der Ringe denkwürdige Gegner ab, die zu mehr taugen als nur Schwertfutter. Eine Möglichkeit, irgendwie die Sprache der Arachniden sprechen und diese verspotten zu können wäre eine naheliegende Option gewesen. Auch wundere ich mich im Nachhinein, dass ich nicht den Radagast den Braunen, der doch sein Domizil im ehemaligen Grünwald hat, eine tragende Rolle gegeben habe. Auf diese Weise hätte ich stärker die bedrohliche Präsenz eines Ringgeists einbauen können; denkbar wäre aber auch eine Zauberzutat aus dem Spinnenwald, bei deren Beschaffung die Abenteurer Radagast behilflich sein können.


Szenario 3 – Jäger aus dem Osten
Teaser: „Im tiefen Winter bedroht ein Wolfsrudel das friedliche Leben in Bree“

Zuletzt hat Mittelerde ja nicht nur bedrohliche Ecken, in denen man jederzeit den Dienern des Feindes begegnen kann, sondern gerade mit dem Auenland und seiner Umgebung auch ruhige Landstriche, in denen man von diesen Bedrohungen kaum etwas ahnt. Deshalb suchte ich mir als Schauplatz für das dritte Szenario Bree aus und orientierte mich an den Herausforderungen für die Spieler stärker am Kleinen Hobbit.

So beklagen die Bauern in einem besonders harten Winter zunehmende Überfälle von Wölfen, die ihr Vieh reißen – dabei haben sich die Raubtiere bisher noch nie so nah an die Siedlung herangetraut. Nachdem sich die Abenteurer etwas umgehört und selbst nach Spuren gesucht haben, stoßen sie im Chetwald schnell auf die ausgehungerten Tiere. An dieser Stelle musste ich darauf vertrauen, dass einer der Spieler die Rolle des Magiers Tarcil würde übernommen haben, der zuuufällig über den Zauber Tiersprache verfügt – und natürlich hat sich in jeder Runde dieses Einsteigerabenteuers jemand neugierig für den Zauberer entschieden. So finden die Spieler heraus, dass ein Riese die Wölfe aus ihrem Jagdrevier vertrieben hat. Ausgehungert wie sie aber sind, wollen die Tiere nicht abwarten, ob die Helden diese Bedrohung vertreiben können, sondern greifen in ihrer Not an.
Der Riese entpuppt sich schließlich als der Hügeltroll Rogrog, der selbst von dem harten Winter aus den Trollhöhen gen Westen getrieben wurde. Zwar kann man sich diesem mächtigen Ungeheuer auch zum Kampf stellen, da die Abenteurer dieses aber tagsüber in einer kleinen Höhle antreffen, ist es schlauer und einfacher, den Troll einfach auszuräuchern und so ins Sonnenlicht zu zwingen.

Von den drei HdR-Szenarien habe ich dieses hier am häufigsten geleitet und halte es auch heute für dasjenige, das sich am besten gehalten hat. Vielleicht gerade weil es so bodenständig ist führt es die Spieler am elegantesten durch die Regeln und die Handlung: Zu Beginn ein paar Fertigkeitsproben, weiter über Dialog und Kampf mit widerstrebenden Kreaturen, bis hin zum finalen Konflikt mit einem übermächtigen Gegner, den auszutricksen vernünftiger ist als ein direktes Scharmützel.


Zuletzt: Die Downloads
Zu meinem eigenen Entsetzen habe ich in meinen umfangreichen, aber verstreuten Datenarchiven nicht die orginalen Worddokumente der beschriebenen Abenteuer wiedergefunden. Stattdessen ist aber immerhin inmitten der Ordner mit etlichen Sammelkartensets auch der mit meinen damaligen Ausdrucken zur Verwendung in den Demorunden aufgetaucht. Hier nun also die passablen Scans dazu in pdf-Form:

Der Herr der Ringe (Coda) - Die Festung von Umbar (pdf 7,93 MB)
Der Herr der Ringe (Coda) - Die Brut von Ungoliant (pdf 5,94 MB)
Der Herr der Ringe (Coda) - Jäger aus dem Osten (pdf 5,66 MB)


Der Herr der Ringe war aber nicht das einzige Rollenspiel, für das ich Anfang der 2000er Teil des Supportteams war. So ist dies nur Teil 1 von einer Artikelserie über meine alten Einstiegsabenteuer:

Teil 1: Der Herr der Ringe (Coda)
Teil 2: Star Trek (Coda)
Teil 3: Munchkin d20




Dieser Artikel ist ein Beitrag zum Karneval der Rollenspielblogs im Juni 2018 mit dem Thema „First Contact oder vom Einsteige(r)abenteuer“. Die Moderation liegt bei Dnalors Fantasy Blog, alle Beiträge des Monats werden zudem in diesem Thread des Forums der Rollenspielblogs aufgelistet.


Bildquellen:
Buchcover: RPGGeek

3 Kommentare:

TheShadow hat gesagt…

Nanü? kein Kartenmaterial zu Umbar?

Klaus hat gesagt…

Nun ja, damals habe ich selber einfach eine Karte des Umbarer Hafens aus den Weiten des Internets verwendet, so dass ich diese nicht an meinen Scan anhängen wollte.

simius hat gesagt…

Coole Szenarien. Danke dafür

Kommentar veröffentlichen