Dis' Türme der Leere

18.04.2021

Wie alle anderen Passionen in der Provinz Barsaive von Earthdawn haben auch die drei verrückten Passionen Dis, Raggok und Vestrial Wallfahrtsorte, die unter ihren Anhängern besondere Bedeutung haben. Die Jünger des Dis, Schutzherr von Bürokratie und Sklaverei, wissen um die Ruine eines uralten Archivs aus der Zeit vor der Plage, dessen Standort die Passion aber nur den Würdigsten offenbart.


Das Archiv des Erendis
Heute ist der berühmteste Hort des Wissens in Barsaive die Bibliothek von Throal, die in ihrer Fülle ihresgleichen sucht. In der Zeit lange vor der Geißel jedoch, als die Passion noch als Erendis für Ordnung, Effizienz und Gemeinwesen stand, soll bereits ein ähnlicher Ort existiert haben, an dem ihre Questoren wichtige Dokumente für die Nachwelt erhalten wollten. Inzwischen ist dieses Archiv schon lange untergegangen und vom Zahn der Zeit geschleift worden.

Nur einige wenige alte Dokumente, die in Throal verstauben, geben noch Hinweise auf die Existenz dieses Bauwerks, dessen Lage an so unterschiedlichen Stellen wie dem verwüsteten Landis, im Caralkspur-Gebirge jenseits der Ruinen von Vivane und Himmelsspitze oder in den Ausläufern der Caucaviaberge nahe dem Arasmeer verortet wird. Wieder andere behaupten, der Standort des Archivs liege in der heutigen Öde und sei damit für alle Zeiten verloren.


Eine Ruine, die keine ist?
Dennoch berichten Questoren des Dis, dass ihre Passion besonders Würdigen unter ihnen eine letzte große Gnade gewährt. Auf ungeklärte Weise kommt dann ein Questor in den Besitz eines bedeutenden Dokuments und verspürt den unstillbaren Drang, dies an seinen ordnungsgemäßen Platz zu bringen. Nur die Reise selbst beherrscht dann noch sein Denken, und sein ganzes Streben ist auf den Marsch selbst fokussiert. Der Weg führt den Pilger schließlich in unwegsames Gelände, an dessen Horizont einige verwitterte Findlinge mehr zu erahnen denn zu erkennen sind.

Je näher der Questor diesem Ziel jedoch kommt, desto deutlicher offenbart sich dessen wahre Natur: Statt der Findlinge erspäht man die Umrisse einer lange geschleiften Ruine; wieder etwas näher erkennt man verwitterte Überreste trutziger Erdgeschosse, bis sich vor dem Questor am Ende schließlich massige, schmucklose Türme in ungeahnte Höhe erheben.

Die genaue Natur dieses Ortes, der sich erst aus der Nähe den wirklichen Würdigen zeigt, ist bis heute nicht ergründet. Es gibt Theorien, dass sich die Türme des Dis in einer abgelegenen, gänzlich von den Schrecken verseuchten Region des Astralraums befinden. Andere behaupten, sie wären eine Manifestation der verrückten Passion selbst - ein seltener Fall, in dem sich eine Passion nicht als Namensgeber, sondern etwas gänzlich anderes offenbart.

 



Treppen und Leere
Betritt man einen der fast fensterlosen Türme durch die kleine Eingangspforte, findet man sich am Fuße eines endlosen Gewirrs aus Treppen und Emporen, das nach oben grenzenlos erscheint. Schmale Regale und enge Kammern, vollgestopft mit verwitterndem Pergament, sind inmitten der schmalen Fluchten verteilt und lassen nur erahnen, welche Dokumentenschätze hier verborgen vor sich hinschlummern. Noch immer vom Drang angetrieben, das von Dis überreichte Dokument an seinen richtigen Platz zu bringen, betritt der Questor nun dieses düstere Labyrinth auf der Suche nach eben diesem einen Ort. Oftmals findet er auch in einem der Regale eine andere Schrift, von der er instinktiv weiß, dass diese falsch abgelegt worden ist, und fügt sie seiner wachsenden Last hinzu.
Den Rest seiner Existenz wird er damit verbringen, über die endlosen Treppen inmitten der hohlen Hallen des Turms zu trotten, kryptische Zeichen und Wegweiser zu deuten und beständig zwischen den steten Abzweigungen und Kreuzungen zu wählen; der Körper gebeugt vom Gewicht der vielen Schriftrollen; der Geist entleert und nur auf den nächsten Schritt fokussiert, auf dem Weg zu einem unerreichbaren Ziel.

Manchmal mag der Questor des Dis auf seinem Weg durch das Labyrinth schattenhaft andere Lebewesen erahnen, die ähnlich eintönig und schwer beladen durch die Türme des Dis wandern. Und hin und wieder sind ausgeblichene Knochen am Wegesrand, zwischen denen die Reste von zerfallenem Pergament zu erahnen sind, der einzige Hinweis auf die Erlösung, die am Ende jeden an diesem Ort ereilt.



Die Mär von Trudza und Erchek

Wenn die Türme des Dis ein Ort sind, den niemand wieder verlässt, wie kann es da Beschreibungen von ihrem Aussehen oder sogar ihrem Innenleben geben? Troubadoure kennen die Geschichte der beiden orkischen Freunde Trudza Vierfinger und Erchek Kettenbeißer; beide geboren in theranische Sklaverei in der Zitadelle von Vivane. Beide hielten unter dem Joch ihrer Herren zusammen und gaben einander auch nach Öffnung der Zitadelle Kraft, bis sie eines Tages nach dem Überfall auf ihr Lager durch trollische Luftpiraten fliehen konnten. Während Erchek die ungeahnte Freiheit genoß und so schnell sein Leben der Passion Thystonius widmete, zerbrach Trudza an der Verantwortung, die ein selbstbestimmtes Leben ihm abverlangte und gab sich ganz den Lehren des Dis hin. Lange Jahre verbrachten beide große Taten im Namen ihrer Schutzpatrone, oftmals aber kreuzten sich aber ihre Pläne und jeder versuchte den anderen von seinem Irrweg abzubringen, auf dass beide nur einer, der richtigen Passion folgen mochten.

Als Trudza schließlich von Dis die Lage der Türme offenbart wurde, nutzte er dieses Wissen als letzten Akt, auch seinem alten Freund Erchek die Erlösung von Dis' Geistesfrieden zukommen zu lassen. Auch der Questor des Thystonius gelangte in den Besitz eines alten Dokuments, das von einem Archiv uralter Schätze sprach, das nur mit äußerstem Wagemut könnte gefunden werden und eine große Herausforderung versprach.
Während Trudza so sein letztes Ziel anstrebte und sein Geist alle Last der Erinnerung vergaß, bis auch er schließlich zu einem hohlen Schatten seiner selbst inmitten des Treppengewirrs geworden war, fand auch Erchek die Türme des Dis und machte sich voller Energie an deren Erforschung. Viele vermeintliche Schätze fand er dort; rastlos hastete er durch die Hallen, immer auf der Suche nach dem nächsten, wertvolleren Fund.


 

Niemand weiß, wie lange Erchek so mit einer Jagd verbrachte, die letztlich kein wirkliches Ziel mehr kannte und fast seinen Geist endgültig in die Hände des Dis getrieben hätte. Die Stimme des Thystonius drang nicht bis an diesen Ort vor; und erst als Erchek unter der Last der vielen gesammelten Pergamente zusammenbrach und einen kurzen Moment fand, sich auf die eigene Kraft zu besinnen, die ihn für kurze Zeit verlassen hatte, wurde er der Täuschung gewahr, die ihn überkommen hatte. Kraftstrotzend bäumte er sich auf, alle Last der vermeintlichen Schätze von sich werfend, und sprang wagemutig von einer Treppe zur anderen hinunter, sich nicht mehr um das verstrickte Labyrinth scherend, das Dis an diesem Ort errichtet hatte. So gelangte Erchek schließlich wieder an den Fuß des Turmes und durchbrach die Pforte hinaus ins rettende Tageslicht. Der Turm war verschwunden, um ihn herum nur verwitterte Steine, doch die Erinnerung an seinen langen Irrweg und an die rettende Kraft, die Thystonius im gegeben hatte, blieb ihm.

Nur so hat sich unter den Namensgebern Barsaives das Wissen um die Türme des Dis verbreiten können. Immer noch finden sich waghalsige Abenteurer, die das Wagnis auf sich nehmen wollen, diesem Ort seine vermeintlichen Schätze zu entreissen, doch von den meisten hört man nie wieder - wenn sie die Türme überhaupt zu finden vermochten. Auch halten sich bis heute Gerüchte, dass die Questoren des Dis durchaus in der Lage sein sollen, andere an diesen Ort zu senden, doch es ist nur selten, dass sie jemanden als würdig genug dafür erachten.
Es mag sein, dass die Questoren des Dis noch andere Erzählungen zu den Türmen haben, diese teilen sie aber nicht.



Regeln
Das Dokument, das einem Questor des Dis auf den Weg zu den Türmen seines Herrn aufbrechen lässt, wirkt wie die Weihekraft Zwingen (siehe Questoren, S. 93) Stufe 25 mit dem Befehl "Bring mich zu den Türmen des Dis." Es obliegt der Spielleitung, ob der Herr der Bürokratie und Sklaverei dem so verfluchten dieses Ziel auch finden lässt.

Im Turm angelangt ist ein Namensgeber völlig der Macht des Dis ausgeliefert: Die Passion flüstert ihm einmal pro Woche den Befehle "Ordne!" ein, der wie die Weihekraft Lebender Tod (siehe Questoren, S.86) Stufe 35 wirkt.


Hinter den Kulissen
Dass für einen Karneval des Nichts ein Beitrag zur Passion Dis anstehen würde, war mir schon länger klar. Als mir dann aber beim Sinnieren über die genaue Umsetzung unaufgefordert ein Ohrwurm von "Towers of Emptiness" (das bei genauerem Hinsehen auch textlich gut passt) meiner Lieblingsband Godflesh durch den Kopf geisterte, war der Kern dieses Artikels gefunden.

Bei der Suche nach passenden Illustrationen hatte ich zuerst die Bibliothek aus "Der Name der Rose" im Sinn, stieß unter den zusätzlich angebotenen Bildern dann schnell auf die Carceri d'Invenzione des Illustrators Giovanni Battista Piranesi. Dass ich somit die Türme des Dis als Gefängnis (und etwas gedrängter als vor meinem geistigen Auge) darstelle, ist ein unerwarteter, aber willkommener Nebeneffekt.



 

Dieser Artikel ist ein Beitrag zum Karneval der Rollenspielblogs im März/April 2021 mit dem Thema "Nichts". Die Moderation liegt bei mir auf Spiele im Kopf, alle Beiträge des Monats werden zudem in diesem Thread des Forums der Rollenspielblogs aufgelistet.


Bildquellen:

  • Marco Torresin: "Torre finale" ("The Name of the Rose" TV Series Concept Art) von marcotorresin.com
  • Giovanni Batista Piranesi: "Le Carceri d'Invenzione - Zweite Auflage - 03 Der Runde Turm" via Wikimedia Commons
  • Giovanni Batista Piranesi: "Le Carceri d'Invenzione - Zweite Auflage - 07 Die Zugbrücke" via Wikimedia Commons
  • Giovanni Batista Piranesi: "Le Carceri d'Invenzione - Zweite Auflage - 14 Der Gotische Bogen" via Wikimedia Commons




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