DSA - Eine alternative Historie mit mehr Schwarzen Augen

29.06.2024

In Deutschlands erfolgreichstem Rollenspiel Das Schwarze Auge bezieht sich dieser Titel auf mächtige allsehende Artefakte, die aber in der vierzigjähren Spielwelthistorie so gut wie gar keine Rolle spielen. Wie hätte also ein Aventurien aussehen können, in dem der Titel des Spiels auch zentrale Bedeutung für die Welt hat? Ein Gegenentwurf.

Vorgeschichte
Als das heute als Das Schwarze Auge bekannte Rollenspiel sich in der Entwicklung zur Veröffentlichung im Jahr 1984 befand, nutzte Ulrich Kiesow als Titel für Welt und Regelsystem noch den Namen "Aventuria". Erst die Marketingabteilung des damals involvierten Verlags Droemer Knaur forcierte mit "Das Schwarze Auge" einen dramatischeren Namen, der die Aufmerksam der Kunden auf sich ziehen sollte. So scheint die Erläuterung zu diesem mächtigen Artefakt im Abenteuer-Basis-Spiel, die eine frappierende Ähnlichkeit mit Tolkiens Sehenden Steinen, den Palantiri, aufweist, auch nicht mehr als ein Nachgedanke gewesen zu sein.

Dieses Schicksal als Randnotiz ist den Schwarzen Augen seitdem auch weiterhin beschieden gewesen: Schaut man sich im Wiki Aventurica die Quellenlage zu diesem Artefakt an, so finden sich zum Großteil Regel- und Hintergrundbände; hier und da mal ein Abenteuer oder eine Kurzgeschichte, in der ein Besitzer erwähnt wird. Im Fokus der durchaus bewegten Geschichte Aventuriens oder gar im Zugriff durch die Helden waren die Schwarzen Augen aber niemals - verwunderlich, denn mit großer magischer Macht sollte doch eigentlich auch entsprechend große weltliche Macht einhergehen.


Drehen wir also das Rad der aventurischen Geschichtsschreibung zurück zu deren frühesten Anfängen: Dem Abenteuer-Ausbau-Spiel von 1985, als zum ersten Mal überhaupt so etwas wie eine überschaubare Weltbeschreibung und -geschichte präsentiert wurde. Im Folgenden werde ich mich grob an den Setzungen dieser unschuldigen Phase von DSA orientieren, freimütig spätere Setzungen klauen/abwandeln, oder generellen Unfug zusammenspinnen. Ziel soll ein betont grobes Aventurien sein, in dem nur ein flüchtiger Überblick und Namen aufgeführt sind, zu denen man eben nicht durch die Publikationen von vierzig Jahren jedes kleinste Detail kennt. Und natürlich steht in Zentrum der Machtpolitik dieser Welt stets der Besitz oder Verlust des mächtigsten und namensgebenden Artefakts dieser Welt: des Schwarzen Auges.



Die Geburt des Hauses Horas
In grauer Vorzeit, als Aventurien noch jung waren, gebot über dessen ganze Lande ein großer und weiser König. Weise aber gestreng war seine Herrschaft, und tausend Jahre beugten sich seine Untertanen ihrem unumstrittenen Gebieter. Zum Lohn für seine Regentschaft erhoben ihn die Zwölfgötter schließlich in ihre Mitte am Firmament, und es sah so aus, als müssten die Bewohner Aventuriens nun ohne den Weitblick ihres ewigen Königs auskommen. Doch auch vom Himmelszelt aus vergaß der Herrscher seine Untertanen nicht und machte ihnen ein letztes, mächtiges Geschenk: Er nahm sich eines seiner Augen und schleuderte es hinab zu seinem verlassenen Thron. Der glühende Ball, den alle weithin gen Erde stürzen sahen, zerschmetterte schlielich den Sitz des entschwundenen Herrschers in die vielen kleinen Eilande, die wir heute als die Zyklopeninseln kennen.

In Scharen setzten die Bewohner der nahen Küstendörfer die Segel, um des Relikts ihres geliebten Herrschers habhaft zu werden; und in Scharen gingen sie dabei unter. Die einen zerschellten in den trügerischen Gewässern um die neu entstandenen Inseln, die anderen wurden von den seltsamen einäugigen Monstrositäten, die nun die Eilande bewohnten, zerschmettert oder verschlungen. Noch heute sagt man den Bewohnern dieser Zyklopeninseln nach, dass ein Teil der hellseherischen Macht des herabgefallenen Auges auf sie übergegangen sei.

Als ein Untertan schließlich diese nachtschwarze, nicht einmal faustgroße Kugel als erster entdeckte, wurde dies als Zeichen gesehen, dass die Herrscherwürde auf ihn übergehen solle. Er wurde der erste Horas, der erste Finder, des sogenannten Schwarzen Auges, das seinem Träger in dessen Stirn eingesetzt ermöglicht, in die Ferne, in die Zukunft und sogar in die Vergangenheit zu blicken. So wurde Perem-Horas der Gründervater einer langen Dynastie, die das Schwarze Auge und somit die Kaiserwürde auf das erstgeborene Kind weitergab. Der kleine Weiler Bosparan, in dem Perem-Horas aufgewachsen war, sollte sich über die nächsten Generationen zu einer prächtigen Metropole entwickeln.

Die göttliche Hellsicht, über die der Horas dank des Schwarzen Auges verfügte, unterstützte ihn auch bei der raschen Ausdehnung seines Reiches. Neben neuen Stadtgründungen wie Kuslik, Arivor oder Bethana erweitete das Kaiserhaus seinen Einfluss gen in die fruchtbaren Regionen landeinwärts. Stets bewies der Horas dank seiner Weitsicht eine gute Hand bei der Wahl seiner Minister und Heeresführer; und heutige große Städte wie Punin, Gareth oder Havena sind bis heute Zeugen dieser ruhmreichen Geschichte.

 




Eine Begegnung mit Axt, Hauern und Bogen
Auf ihren Feldzügen mussten die Menschen des Horasreichs aber bald feststellen, dass die Lande Aventuriens nicht ihnen allein gehören. Kundschafter, die die Ambossberge und ihre Bodenschätze untersuchen sollten, kehrten über Tage nicht zurück in ihr Heerlager. Erst nach einer Woche kam eine Delegation von kleinen Männern aus den Bergen herab; nicht größer als Heranwachsender, alt genug für den ersten Flaum, aber bereits gesegnet mit wallenden Bärten und der tiefen Stimme des Alters. In gebrochener Sprache der Menschen warfen sie die abgeschlagenen Köpfe der verschollenen Kundschafter auf den Boden des Lagers, zusammen mit deren besudelten Bannern des Horasreiches. Man wolle mit den Dienern des Auges nichts zu tun haben, und die Soldaten sollten sich hüten, jemals wieder in die Nähe ihrer Reiche zu kommen. Dies war die erste Begegnung mit den Zwergen Aventuriens, deren Feindseligkeit den Untertanen des Schwarzen Auges bis heute anhält.

Natürlich wollte der Heerführer diesen Affront nicht einfach hinnehmen, und befahl die Eindringlinge zu ergreifen. An diesem Tage sollten die Soldaten Bosparans somit auch die verbissene Kampfkraft der Zwerge kennenlernen, die mit Schild und Axt blutige Ernte unter den Horasmannen hielten und sich in ihre Berge zurückzogen. Der Eroberungszug des Heers war nun erst einmal gestoppt, denn das Heer machte sich sogleich an die Belagerung des Zwergenheims, um ihnen den gebührenden Respekt beizubringen. Ein Jahr ging so ins Land, bei dem das Horasheer langsam aber sicher zerrieben wurde. Kein Kundschafter vermochte, den Eingang in das unterirdische Reich der Zwerge zu finden, und die gut geplanten Ausfälle der Zwerge überraschten die Menschen ein jedes Mal und verlangten zahlreiche Opfer. Bis heute erinnert eine verwitterte Stele am Fuß der Ambossberge die Menschen, diesen Ort unaufgefordert zu betreten und erinnert an die geschlagene Armee, deren Name und der des Heerführes ob ihrer Schande aus den Annalen des Horasreiches getilgt wurden.
Auch die Zwerge haben seit dieser ersten Begegnung mit den Menschen nie wirklich Vertrauen zu den Menschen gefasst, sondern verbergen sich so weit sie können in ihren Städten tief in den Herzen der Berge.

Die Zwerge sollten aber nicht das einzige Volk sein, das dem Horasreich im Weg stehen sollte. Jahrzehnte später, das Reich hatte sich schon um viele Meilen gen Norden ausgedehnt, betraten die Truppen des Kaisers zum ersten Mal die Messergrassteppe jenseits des Finsterkammgebirges und das Hochland nördlich davon. Sogar seine Majestät Tarman-Horas persönlich war Teil dieses Heers, hatte das Schwarze Auge ihm doch gezeigt, wie er in dieser öden Gegend seine Macht bei einer einzigartigen Begegnung weiter ausdehnen würde. Schon vorher war man auf die Orks gestoßen, die schwarzbepelzten Bewohner dieser abgelegenen Gegend, die immer wieder in marodierenden Banden durch das Reich zogen. Hier aber sahen die Menschen erstmals die Siedlungen dieses wilden Volks in ihrer Heimat. Während sich der Kaiser und seine Heerführer schon auf einen harten Waffengang mit einem unerbittlichen Gegner vorbereiteten, sah der Empfang durch die Stammeshäuptlinge der Orks tatsächlich ganz anders aus.

Als das Heer des Kaisers sich mit Prunk und Banner der ersten großen Orksiedlung näherte, stellte sich ihnen ein Tross des Häuptlings, seiner Schamanen und besten Krieger entgegen. In kruden Worten bedeutete der Anführer Wilden, das Symbol des Schwarzen Auges, das die kaiserlichen Banner schmückte, sei auch das Symbol ihres höchsten Götzen und eine Herausforderung an seinen Führungsanspruch. Diese Provokation nehme er gerne an; ein Duell solle entscheiden, wer die Herrschaft über seinen Stamm habe.
Zahlreiche Geschichten erzählen von dem Zweikampf, in dem Kaiser Tarman-Horas den Orkhäuptling vernichtend schlug, geleitet von der Voraussicht des schwarzen Auges. Andere Quellen behaupten jedoch, der Häuptling und sein Gefolge seien einfach von den kaiserlichen Bogenschützen mit Pfeilen gespickt worden, so dass kein anderer mehr die Hand gegen den Kaiser zu erheben wagte.

So begann der Dienst der Orks in der Armee des Kaisers. Angetrieben vom Glauben, der Träger des Schwarzen Auges sei eine Verkörperung ihres obersten Götzen auf Aventurien, ordneten sich die Orks der Herrschaft des Horasreiches unter. Zwar sollte es alle paar Generationen einen mutigen Häuptling geben, der den Kaiser zum Duell zu fordern glaubte, aber diese Aufmüpfigkeit wurde stets schnell und brutal beendet. Die Orks, die zwar in den Orklanden weiterhin am zahlreichsten sind, folgten den menschlichen Eroberern in deren Siedlungen, wo sie in einfachen - manche Stimmen behaupten unwürdigen - Barracken als fähige und vor allem entbehrliche Truppen kaserniert wurden. Mit dieser Truppenstärke erreichte das Kaiserreich unter Tarmans Enkelin Duvanti-Horas seine größte Ausdehnung vom Loch Harodrol im Süden bis zum Bornwald im Norden, von den Zyklopeninseln im Westen bis zum Golf von Perricum im Osten. Dennoch sollte Kaiserin Duvanti-Horas als eine tragische Gestalt in die Geschichte eingehen, die das Schicksal ihrer Dynastie für immer verändern sollte.

Als die unaufhaltsamen Truppen der Horas sich den Salamandersteinen und den Wäldern nördlich davon näherten, begegneten die Menschen zum ersten Mal dem vierten großen Volk Aventuriens. Dieses hochgewachsene und schlanke Volk der Elfen verfügte über eine natürliche Magie, die sich dem Verständnis der Kaiserlichen entzog. Da die Elfen zudem kein Interesse an einem Kontakt hatten und sämtlichen solchen Versuchen einfach aus dem Weg gingen, machte sich die Kaiserin Duvanti-Horas schließlich selbst auf den Weg in den hohen Norden; überzeugt davon, dank der Macht des schwarzen Auges ähnlich leichtes Spiel mit diesen Barbaren zu haben wie ihr Großvater Tarman-Horas mit den Orks.

Die Begegnung der Kaiserin mit den Elfen wurde aber ein Desaster, das die Linie der Horas-Dynastie für immer prägen sollte. Überzeugt davon, die Fähigkeiten des Schwarzen Auges würden ihr all das offenbaren, was die Elfen bisher erfolgreich in Schweigen gehüllt hatten, näherte sich Duvanti-Horas den schlanken Nichtmenschen. Stattdessen aber überflutete das Auge sie mit wirren Bildern, die ihren Verstand überwältigten. Während die Kaiserin ohnmächtig zusammenbrach, zogen sich die Elfen einfach wortlos zurück und verschwanden wieder unauffindbar in ihren Wäldern. Als Duvanti-Horas wieder erwachte, ging ihr leerer Blick an den versammelten Adjutanten ins Leere, ständig faselte sie nur von unergründlicher Schwärze; von auseinanderstiebenden Sternen und von erdrückenden Fesseln, die sie zu ersticken drohten.

Damit begann die Zeit der Wirren Kaiser. Nicht nur sollte sich Duvanti-Horas nie von den Visionen erholen, die sie bei den Elfen empfangen hatte, auch ihr Sohn Delessan-Horas wurde von den gleichen Bildern übermannt, als er noch im Knabenalter die Kaiserwürde und das Schwarze Auge von seiner bald dahingerafften Mutter erbte.


Die Wirren Kaiser
Delessan-Horas und seine Nachkommen vermochten die Pflichten eines Kaisers kaum zu erfüllen. Mehrmals am Tage und in jeder Nacht sandte ihnen das Schwarze Auge Visionen nicht nur von der Leere, wie Duvanti-Horas sie gesehen hatte, sondern auch von Aventurien selbst. Mal zeigten diese Bilder Ereignisse in ferner Vergangenheit und Zukunft, manchmal doppelten sie sogar das, was sich in unmittelbarer Nähe des Kaisers zutrug. Die Träger des Schwarzen Auges waren oft zu einem Häufchen Elend reduziert und brabbelten wirr vor sich hin, was sich ihrem Geist gerade offenbarte.

Der Hofstaat bemühte sich redlich, die Unpässlichkeit der Kaiser vor dem Volk geheim zu halten und den Herrscher wenigstens für die rudimentärsten Geschäfte bei Hof aufzupäppeln. Zum einen standen zahlreiche Ärzte und Alchemisten bereit, die den Geist des Horas mit ihren Tinkturen mehr oder weniger stark betäubten. Zum anderen nahmen es die engsten Berater wie etwa die Hofzauberer, Diplomaten oder Generäle auf sich, aus dem Gebrabbel des Kaisers dessen Regierungsanweisungen herauszulesen. Sehr bald wurde es auch dem letzten im Volke klar, dass der Träger des Auges zu einer reinen Marionette verkommen war und die Mächte hinter dem Thron das eigentliche Sagen hatten.

Die Zeit der Wirren Kaiser war geprägt sowohl von Würdenträgern, die ihre Macht schamlos ausnutzten, als auch solchen, die sich als umsichtige Verwalter des Reiches erwiesen. Berüchtigt bleibt bis heute der Hohepriester Terello von Belhanka, der in pompösen öffentlichen Auftritten den Bau immer neuer Prachtbauten als Willen des Kaisers verkündete, um selbst darin im Luxus zu schwelgen. Auf der anderen Seite wird General Armatu Handuval bis heute als glorreiches Vorbild vereehrt; schaffte er es doch, Unruhen unter dem Ork-Fußvolk durch geschickte Diplomatie zu besänftigen und gleichzeitig mehrere erfolgreiche Feldzüge gegen abtrünnige Provinzen im Südosten des Reiches zu führen. Er machte Gareth auch zu einer prächtigen und wehrhaften Metropole, die er mit der naheliegenden Kasernenstadt Wehrheim als Basis für seine Eroberungen nutzte.

Die Dynastie auf dem Horas-Thron selbst jedoch begann schnell, den Kaisertitel als schwere Bürde zu sehen, die den eigenen Geist unwiderbringlich brechen würde. Dennoch war das Pflichtbewusstsein unter den Thronfolgern stets so ausgeprägt, dass sie sich mit ihrer Krönung willig der Marter durch das Schwarze Auge unterwarfen. Erst unter Kaiser Valmut-Horas sollte dieses Pflichtgefühl verraten und die Hauptstadt ins Verderben gestürzt werden.

Valmut, der älteste Sohn von Kaiserin Dilaba-Horas und schon von Geburt an ein gebrechlicher Junge, haderte von frühester Kindheit an mit dem Wahnsinn seiner Mutter. Als Kaiserin Dilaba schließlich auf dem Sterbebett lag, fasste der inzwischen Zwanzigjährige endgültig den Entschluss, sich der Verantwortung des Throns zu entziehen und die Hauptstadt Bosparan bei Nacht und Nebel zu verlassen. Weit kam Valmut aber nicht: Seine Feigheit war kein großes Geheimnis, und so wurde er bald von den aufmerksamen Stadtwachen aufgegriffen und zum Palast zurückgeführt.
Wenige Tage verstarb die Kaiserin und Valmut wurde zum neuen Horas gekrönt, dem neuen Finder des Schwarzen Auges. Um den Volk zumindest vorzugaukeln, dass sie einen standfesten Kaiser bekommen hätten, wurde Valmut-Horas auf einen der großen Außenbalkone bugsiert, bereits schwer von Medikamenten und Tinkturen betäubt. Doch selbst in diesem Zustand war sein Geist zu schwach für die Macht des Auges, das ihn in diesem Moment in der Öffentlichkeit gänzlich übermannte. Während Valmut-Horas sich vor Schmerzen schreind auf der Balustrade wand, überkamen in einer großen Welle von unermesslicher Geisteskraft alle Höflinge und Schaulustigen die Schreckensvisionen, wie sie jeder Kaiser seit Duvanti-Horas erdulden muss. In ihrem Kopf hörten sie Knurren, Schreie und Geflüster; vor ihren Augen versank die Welt in sternenloser Schwärze, in denen verwahrloste Landstriche Aventuriens und Stadtruinen unter einem dunklen Himmel aufblitzten, durchstreift nur von Monstren und Dämonen. Manche sagen, sogar am Himmel über Bosparan selbst wären in diesem Moment die Sterne erloschen. Schließlich sackte Valmut-Horas mit Schaum vor dem Mund tot zu Boden, und mit ihm folgten ihm die Hälfte der Bewohner Bosparans in einen alptraumhaften Tod.

Nicht nur war die Hauptstadt damit gelähmt; der Staatsapparat unfähig, routiniert zu funktionieren. Verschlimmert wurde die Situation noch dadurch, dass nun Duvantis jüngerer Bruder Hugamas zum Horas gekrönt wurde und durch die Bürde des Auges zu ständigen Alpträumen verdammt wure. Hugamas hatte sich bisher als fähiger Stratege und Anführer erwiesen, der von Gareth aus die Truppen des Reichs verwaltete. Mit der Kaiserwürde geschlagen, fiel somit ein weiterer wichtiger Teil des Staatsapparates aus. So verwundert es nicht, dass in den kommenden Jahren das Horasreich zahlreiche Provinzen verlor; so das Bornland, die Insel Maraskan oder die nun unabhängigen Fürstentümer Nostria und Andergast.

Erst einige Generationen später, unter Kaiserin Desheb-Horas, hatte sich das Reich wieder erholt. Nach der schrecklichen Dämonennacht, die Kaiser Valmut-Horas über sein Volk gebracht hatte, schien sich der Fluch des Schwarzen Auges langsam zu lösen, und Desheb-Horas war die erste, die trotz der immer noch auftauchenden Schreckensvisionen die Aufgaben einer Regentin durchführen konnte. Dennoch sollte sie die letzte Kaiserin auf dem Thron von Bosparan sein.



Der Usurpator
Unter Desheb-Horas engsten Beratern befand sich ein Mann, dessen Weisheit und Macht nicht nur in dieser, sondern auch in früheren Generationen unerreicht war: Tharsonius von Bethana. In einfachen Verhältnissen in der horasischen Hafenstadt geboren, wurden schon in früher Jugend die kaiserlichen Magierakademien auf ihn aufmerksam, bis er schließlich zum Hofmagier aufstieg. Auch wenn die Kaiserin oftmals klaren Verstands war, wurde auch Desheb-Horas wie ihre Vorfahren immer wieder von den Visionen des Schwarzen Auges überwältigt. In diesen Phasen nutzte Tharsonius seine Hellsicht-Magie, um selbst einen Blick auf das zu werfen, was das Schware Auge seinem Träger offenbarte - eine Fertigkeit und Machtdemonstration, von der man nie zuvor gehört hatte.

Vielleicht hätte man deshalb auch Tharsonius plötzlichen Verrat erahnen können, der in der aventurischen Geschichte einzigartig ist, stattdessen wurden aber alle davon völlig überrascht. In einer Phase der geistigen Umnachtung der Kaiserin propagierte er, die Linie der Horas sei nicht mehr fähig und würdig, Träger des Schwarzen Auges zu sein. Stattdessen sei er es, der die Macht und die Weitsicht des Schwarzen Auges gebändigt habe, so dass nur es nur ihm zustehe, dieses Artefakt und die Kaiserwürde zu tragen. Und zum Beweis seiner Worte ergriff er die immer noch derilierende Kaiserin, packte das Schwarze Auge und riß es aus ihrer Stirn. Doch statt nun den faustgroßen Stein emporrecken zu können, geschah etwas, das die Herrschaftsverhältnisse in Aventurien für immer verändern sollte: Das Auge zersprang in dreizehn kleinere Teile; nicht Splitter und Bruchstücke, sondern dreizehn kleinere, makellose Schwarze Augen.

Nur der Geistesgegenwart des Hauptmanns der Wache Raul von Gareth und der Verwirrung Tharsonius' ob dieser unerwarteten Wendung ist zu verdanken, dass die Kaiserin diesen Staatsstreich überleben konnte. Raul und einige Kaisertreue brachten die bewusstlose Desheb-Horas in Sicherheit, zusammen mit fünf der neuen Schwarzen Augen. Zuflucht fanden Sie in Rauls Geburtsstadt Gareth, das als Feste und Kasernenstützpunkt gut genug befestigt schien. Tharsonius hingegen gab sich und seiner, wie er es nannte, beginnenden Dynastie den Titel des Bor-Barad, des Hüters des Auges. Zahlreiche Würdenträger entflohen der Stadt, der Großteil hielt aber an ihrer Macht fest und schwor dem neuen Kaiser die Treue.
Wirklich gespalten wurde durch Tharsonius' Verrat aber das immer noch das stehende Heer der Orks. Wem hatten sie nun wirklich die Treue geschworen? War es das Schwarzen Auge selbst und somit dessen Träger, oder war es das horasische Kaiserhaus, dessen Vorfahr einst die Orks unterworfen hatte. Der so entfesselte Bürgerkrieg unter den Orks erschütterte das Kaiserreich; zahlreiche Städte und Siedlungen wurden so in Mitleidenschaft gezogen. Der Ursupator indes konnte dank der Überläufer und Augen-getreuen Orks die Hauptstadt Bosparan von diesen Wirren fernhalten, ebenso erwies sich Gareth mit den horastreuen Orks als sicherer Hafen.

Inmitten diesen Wirren musste der Bor-Barad schnellstens für Ordnung sorgen, und so blieb Tharsonius keine andere Wahl, als die Horastreuen in Gareth zu vernichten und so seinen Herrschaftsanspruch zu festigen. So trafen die beiden Heere - auf jeder Seite vor allem aus Orks bestehend, die ihresgleichen nur als verabscheuungswürdige Verräter sahen - schließlich vor Gareth aufeinander. Zwei Tage und zwei Nächte dauerte die Schlacht, mal geprägt von einem Ansturm der borbaradianischen Truppen auf die Stadtmauer, mal von einem Ausfall der Horasier. Auf der Seite der Angreifer lenkte der Usurpator seine mächtige Magie gegen die Feste wirkte, während eines der schwarzen Augen in seiner Stirn sass und die anderen sieben um seinen Kopf kreisten. Derweil erwies sich für die unter Druck stehenden Garether ihre eigene kleine Akademie als ein Glücksfall: Rohal der Weise, Leiter dieses Instituts vermochte die magischen Attacken des Tharsonius abzuwehren, wenngleich er sich auch weigerte, mit gleichen magischen Mitteln das Heer aus Bosparan anzugreifen. Als in einem gewagten Ausfall die geschwächte Kaiserin Desheb-Horas mit ihren Getreuen in der ersten Nacht einen Ausfall durchführte, wurde sie von Tharsonius persönlich aufgehalten und erschlagen. Ihre Gefährten konnten sich mit Müh und Not in die Stadt zurück retten, aber das Schicksal Gareths schien besiegelt.


Die Entscheidung kam aber erst in der zweiten Nacht, als Tharsonius die Geduld mit seinen regulären Truppen verlor und beschloss, die renegaten Garether die wahre Macht der Schwarzen Augen zu zeigen. Der Himmel verdunkelte sich, die Sterne verblassten und alle Kämpen der Schlacht, ob Freund oder Feind, sahen die verwirrenden Bilder, die die Schwarzen Augen ihrem Träger senden. Inmitten der Heere brach alsbald Panik aus, erinnerten sich doch alle an den Wahnsinn, den einst die Dämonennacht gebracht hatte. Doch ihre Ängste waren unbegründet: Während die ersten Kämpfen Gareths sich bereits vor Schrecken auf dem Boden wanden, bemerkten die ersten vier Krieger in glänzender Rüstung, die plötzlich in ihrer Mitte standen. Gemeinsam schritten sie zur Brüstung der Stadtmauer und deuteten auf den Usurpator auf dem Feld unter ihnen und sprachen nur ein Wort: "Genug.". Tharsonius blickte von Angst erfüllt zu ihnen herauf, während das Auge in seiner Stirn gemeinsam mit den anderen sieben zu Boden fiel. Ungläubig hob der Bor-Barad vier der machtlosen Augen auf und verwendete seine letzte Magie, um sich aufzulösen und feige vom Schlachtfeld zu verschwinden.

Die Garether, die ihr Ende schon hatten kommen sehen, fassten neuen Mut, öffneten das Stadttor und starteten einen beispiellosen Ausfall. Die bosparanische Armee, ihres Anführers beraubt, wurde überrannt und niedergemetztelt. Als schließlich wieder die Sonne nach dieser zweiten Dämonennacht aufging, schritt schließlich Rohal der Weise über das Feld, das mit bosparanischen und garethische Leichen gefüllt war. Auf dem Feldherrnhügel vor dem Stadttor, von dem aus Tharsonius den Angriff geführt hatte, fand er schließlich die verbleibenden vier Schwarzen Augen, die der Usurpator zurückgelassen hatte. Eines nahm er mit folgenden Worten an sich "Diese Schlacht ist gewonnen, aber Tharsonius noch nicht besiegt. Dies wird meine letzte Aufgabe sein." Und so löste auch er sich vor den erstaunten Augen der Garether in Luft auf.

Erst Tage später erreichte Gareth die Kunde von einer seltsamen Schlacht der Magier aus dem fernen Gorien. Dort soll sich das Land zu einem riesigen Berg erhoben haben, den niemand erklimmen konnte. Von dem flachen Plateau auf seinem Gipfel sollen für sieben mal sieben Tage Blitze, das Gehäul und Gekreisch von Dämonen und unirdische Flammen weithin sichtbar gewesen sein, bevor dann plötzliche Stille einkehrte. Erst Monate später gelang es, den Gipfel des Tafelbergs zu besteigen, der von fruchtbarem Land zu einer öden und lebensfeindlichen Wüste geworden war. In ihrer Mitte erhob sich eine schwarze Feste; und von Tharsonius dem Thronräuber, Rohal dem Weisen oder den acht Schwarzen Augen fehlte jede Spur. Bis heute ist deren Schicksal nicht bekannt.

Das Heer der siegreichen Garether drängte die führungslosen Streitmächte Bosparans immer weiter zurück, bis es schließlich die Hauptstadt des Verräters erreichte und dem Boden gleichmachte. Mit dem Ende von Desheb-Horas und dem einen Schwarzen Auge wurde schließlich Raul von Gareth zum Kaiser des Neuen Reiches gegründet. Von den verbliebenen acht sollte der Kaiser nur noch eines tragen und die anderen sieben seinen höchsten Vasallen überlassen.


Das Neue Reich
Auch wenn Tharsonius verschwunden und sein getreues Heer besiegt war, hatte Rauls Neues Reich - wegen Gareths Lage im Zentrum Aventuriens bald auch Mittelreich genannt - einen schweren Start. Das Heer, vor allem die zahlreichen Kämpfer der Orks, waren stark dezimiert, und ein weiteres Drittel fühlte sich dem neuen Kaiser nicht mehr ergeben, trug dieser doch nicht das vollständige Schwarze Auge oder entstammte dem Hause Horas, dem sie einst die Treue geschworen hatten. Zwar konnte Rauls Urenkel Reto diverse Verluste des Reiches, darunter die Insel Maraskan zurückerobern, aber die Krone des Mittelreichs hat nur einen Schatten der Macht, über die einst die Horas-Kaiser verfügten.

Retos Sohn Hal, erst seit einigen Jahren auf dem Thron, gilt als schwach; und es gibt viele, die befürchten, die mit einem Auge gesegneten Vasallen könnten ihm die Kaiserwürde streitig machen. Fürst Cuinu ui Bennain der Hafenmetropole Havena gilt als kaisertreu, ebenso Markgraf Throndwig von Warunk. Fürst Herdin von Tuzak, Vogt des eroberten Maraskan, könnte sich auf der fernen Insel sicher genug für eigene Pläne fühlen, und auch bei Baldur Greifax, Landgraf der Provinz Gratenfels, sind viele sich nicht ob seiner Motive sicher. Kronprinz Brin, mit seinem Titel als Thronfolger ebenfalls zu einem Augenträger geworden, ist noch ein unstetet Jüngling. Das siebte und letzte der verbliebenen Augen schließlich ging verloren, als Jucho von Dallenthin und Persanzig, Marschall des fernen Bornlandes, in dem das Mittelreich langsam wieder Fuß fasste, sein Leben und das Auge an den Drachen Fuldigor verlor. Dieser hat sich nun im riesenhaften Gebirge des Ehernen Schwertes niedergelassen und wacht dank der Kraft des Auges darüber, dass niemand es betritt oder gar überquert. Stets in Gefahr wähnt man das Schwarze Auge, das dem Obersten Häuptling der Orks übergeben wurde, von denen viele wieder in ihre alte Heimat des Orklands zurückgekehrt sind. Zwar wechselt dieses durch die unter den Schwarzpelzen übliche Forderung auf Leben und Tod von Zeit zu Zeit den Besitzer, dennoch hat das Schwarze Auge die Orks bisher erfolgreich an die Kaiserkrone gebunden. Der gegenwärtige Träger Olog-Orchai hat sich ein gewiefter Stratege entpuppt, und es bleibt abzuwarten, ob er Ambitionen auf weitere Schwarze Augen hegt.

Vielleicht liegt das Heil Aventuriens tatsächlich darin, die verlorenen Schwarzen Augen wiederzufinden und sie wieder zu dem einen Auge der Horaskaiser zu vereinen. Kanzler Answin von Rabenmund, dessen Motiven auch einige misstrauen, schickt in gemeinsamer Arbeit mit den Magierakademien immer wieder Expeditionen zu diesem Zwecke aus, von denen aber nie eine erfolgreich war. Auch wenn die Wiedergeburt des Einen Schwarze Auges in weiter Ferne liegen mag, so wird der Finder eines der kleinen Augen sicher von dessen Macht und Prestige unter den Herrschern profitieren können. Die Zeiten des Großen Königs sind lang vorbei, auch die Zeiten seiner Erben, der Horas-Kaiser, und es liegt an tapferen Helden, die Glorie alter Tage wieder herzustellen.


Meister-Informationen
DSA-Kundige werden es schon in den ersten Zeilen geahnt haben: In meiner Version von Aventuriens Geschichte ist der Große König natürlich der Namenlose, der nicht etwa von den Zwölfgöttern in ihre Mitte erhoben, sondern aufgrund seines Herrschaftswillens entfernt wurde. Das Auge haben die Götter selbst ihm herausgerissen, um ihn zu blenden und machtlos zu machen; und das dieses Artefakt wieder in Aventurien landete, ist ein unglücklicher Umstand und Fehler, den die Götter den Sterblichen bis heute verschweigen.


Ein Nachwort
Auch wenn ich DSA seit dem Umstieg von Boxen auf Hardcover kurz nach der Jahrtausendwende nicht mehr angerührt habe und inzwischen für den entgleisten feuchten Traum eines Buchhalters erachte, habe ich mir dennoch die Mühe gemacht, einige offizielle Setzungen zu meinem obigen Geschwurbel abzugleichen und eventuell einzubinden. Dass der Namenlose demnach sich tatsächlich selbst verstümmelt haben und sein Auge gen Dere geschleudert haben soll, ist in seiner Ähnlichkeit zu meinem Konzept tatsächlich reiner Zufall. Vielmehr ist es so, dass vieles von dem mythologischen Unterbau, der Aventurien inzwischen aufgepfropft wurde, mich eher überfordert und auch nichts mehr mit dem simplen DSA zu tun hat, mit dem ich ins Rollenspielhobby gefunden habe.

Aber wahrscheinlich ist mein obiger Versuch einer alternativen Geschichts-Setzung auch genau so zu verstehen: Als eine grobe Vorlage mit etlichen Lücken, die darauf warten, von einer Spielrunde gefüllt zu werden, und nicht schon durch unzählige Publikatione bis ins kleinste Detail vorbestimmt sind. Und bei der vielleicht sogar bei dem Satz "Wir spielen 'Das Schwarze Auge'" ein wohliger Schauer über den Rücken fährt; wohlwissend, welch schauerliche Macht damit beschrieben ist.


Bildquellen
Illustration von Aventurienkarte, Magier, Ork und Schlachtgemälde von Bryan Talbot via Vier Helden und ein Schelm, (c) Ulisses Spiele
DSA 1 Abenteuer-Ausbau-Spiel via Amazon, (c) Ulisses Spiele
DSA Logo via Wikimedia Commons, (c) Ulisses Spiele


1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

Ich hätte definitiv Lust, in deinem Aventurien zu spielen!

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